"Mindeststandards müssen eingehalten werden"
Damit Kinder in Flüchtlingsunterkünften vor sexuellen Übergriffen geschützt werden, fordert Johannes-Wilhelm Rörig, Unabhängiger Beauftragter für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, schärfere Richtlinien für die Einstellung von Mitarbeitern und Mindeststandards in den Unterkünften. Panorama 3 hat mit ihm gesprochen.
Wie häufig kommt es zu sexueller Gewalt gegenüber Kindern in Flüchtlingsunterkünften?
Johannes-Wilhelm Rörig: Uns wird aus dem gesamten Bundesgebiet berichtet, dass es sexuelle Übergriffe, Grenzverletzungen und auch Vergewaltigungen in Flüchtlingsunterkünften von Kindern gibt. Ich kenne Fälle, in denen Kinder im Alter von zwei Jahren sexuelle Gewalt erlitten haben. Außerdem müssen wir von einer enormen Dunkelziffer im Bereich des sexuellen Missbrauchs und der sexuellen Übergriffe in Flüchtlingsunterkünften ausgehen.
Es fällt allen Menschen schwer, über sexuelle Gewalt zu sprechen, unabhängig davon, ob sie in einer Flüchtlingsunterkunft leben. Aber für Flüchtlinge ist es besonders schwer, darüber zu sprechen. Im Hinblick auf die Last, die sie durch Krieg und Vertreibung erlitten haben und auch im Hinblick auf ihre besonders prekäre Situation, in der sie sich in einer Flüchtlingsunterkunft in einem fremden Land befinden.
Panorama 3: Warum brauchen wir Mindeststandards und wie sollten diese aussehen?
Rörig: In Flüchtlingsunterkünften ist es im Moment leider dem Zufall oder dem besonderen Engagement einzelner Aktiver oder Träger überlassen, ob geflüchtete Menschen sicher untergebracht werden, ob auf ihre besondere Bedürftigkeit und ihre psychische Belastung hinreichend Rücksicht genommen wird. Deswegen brauchen wir bundesweit einheitliche Regelungen.
In jeder Flüchtlingsunterkunft, in jeder Turnhalle, in jeder Kaserne und auch in jedem ehemaligen Baumarkt müssen Mindeststandards eingehalten werden. Es muss dort geschultes Personal eingesetzt werden, das kultursensibel ist. Wir brauchen gute Hilfsangebote und räumliche Mindeststandards. Es geht um geschlechtergetrennte Sanitärbereiche, es geht um Spiel- und Freizeitmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche und es geht auch um die separate Unterbringung von Kindern und Jugendlichen mit ihren Eltern von allein reisenden oder allein geflüchteten Männern.
Panorama 3: Wie reagiert die Politik auf das Problem des sexuellen Missbrauchs in Flüchtlingsunterkünften?
Rörig: Der Schutz der geflüchteten Kinder vor sexueller Gewalt hat leider derzeit keine Priorität bei der Asylgesetzgebung. Deswegen muss im Asylgesetz nachgebessert werden. Da sehe ich die große Koalition weiterhin in der Pflicht. Als ich den Kompromiss zum Asylpaket II gesehen habe, war ich absolut entsetzt. Allein die Vorlage des erweiterten Führungszeugnisses hat den Kompromiss überlebt. Andere Mindeststandards, die den Kinderschutz in Flüchtlingsunterkünften tatsächlich verbessert hätten, wurden heraus verhandelt.
Ich stelle leider immer wieder fest, dass in der Politik, die Gefahr, die in Flüchtlingsunterkünften aktuell für Kinder und Jugendliche, aber auch für Frauen herrscht, bagatellisiert wird. Dieses große Unverständnis führt dazu, dass die aktuell zwingend notwendigen Maßnahmen nicht ergriffen werden.
Das Interview führte Robert Bongen.