Kein Schutz: wie Deutschland verprügelte Frauen im Stich läßt
Anna Becker* liegt noch in der Klinik, als sie nach einem Platz im Frauenhaus sucht. Sie weiß, sie wird bald entlassen und braucht dringend einen Ort, an dem sie sicher ist. Becker telefoniert Frauenhäuser in ganz Deutschland ab - und bekommt eine Absage nach der anderen: "Die meisten haben gesagt: ‚Wir sind voll bis unters Dach. Und Sie sind körperlich eingeschränkt. Es tut uns leid.‘" Anna Becker kann nicht richtig gehen, sich nur unter Schmerzen mit Krücken fortbewegen. Es sind Folgen der Gewalt, die ihr Partner ihr angetan hat, so erzählt sie es. "Die Schläge waren nicht so schlimm", sagt sie. "Schlimmer waren die Tritte direkt in die Wirbelsäule. Dabei sind Wirbelkörper und Bandscheiben so geschädigt worden, dass es zum Verlust zweier Bandscheiben kam."
Dann endlich eine Zusage von einem Frauenhaus, irgendwo am anderen Ende Deutschlands. Eine Frau sei gerade ausgezogen, sie könne kommen. Ein barrierefreier Platz ist es nicht, sie muss mit ihren Krücken rund 20 Treppenstufen zu ihrem Zimmer bewältigen. Aber sie ist froh, dass sie überhaupt in einem Frauenhaus untergekommen ist.
Platzmangel ist lebensgefährlich
Deutschlands Frauenhäuser sind voll, seit Jahren schon. Die Folge: Tausende schutzsuchende Frauen finden keinen Platz, wenn sie ihn am dringendsten benötigen. Ein Zustand, der im schlimmsten Fall lebensgefährlich sein kann, warnt Sozialarbeiterin Rita Schön*: "Wir haben viele Frauen, gegenüber denen Morddrohungen ausgesprochen werden. Wenn eine Frau keinen Schutzraum findet, kann es passieren, dass sie umgebracht wird – und die Kinder auch."
147 Frauen wurden im vergangenen Jahr von ihrem Partner oder Ex-Partner getötet. Tötungsversuche gab es dreimal so viele. Rund 114.000 Frauen wurden Opfer partnerschaftlicher Gewalt, so belegt eine Statistik des Bundeskriminalamts. Das sind nur die bekannten und angezeigten Fälle. Das BKA weist darauf hin, dass die Dunkelziffer noch viel höher sein dürfte.
Viele Frauen mit Migrationshintergrund im Frauenhaus
Ins Frauenhaus flüchten oft Frauen, die keine andere Möglichkeit haben. Wer relativ leicht eine eigene Wohnung bekommt, sich ein Hotelzimmer leisten oder bei Verwandten unterkommen kann, geht meist nicht ins Frauenhaus. Vor allem Frauen, die nicht aus Deutschland stammen, fehlen diese Optionen oft. Sie nehmen Frauenhäuser überproportional häufig in Anspruch. Von den acht Frauen im Haus von Rita Schön sind sechs nicht in Deutschland geboren. Das entspricht in etwa dem bundesweiten Schnitt von 68 Prozent. In den vom BKA erfassten rund 139.000 Delikten häuslicher Gewalt sind hingegen knapp 68 Prozent der Täter deutsche Staatsangehörige.
Mehr als ein Dach über dem Kopf
Viele Frauen fliehen, ohne irgendetwas mitnehmen zu können. Manche schaffen es noch, einen Koffer mit dem Nötigsten zu packen, andere kommen nur mit dem, was sie am Leib tragen. Sie setzen sich in einen Zug und machen sich auf den Weg in eine Stadt, in der sie niemanden kennen. Ein Platz in einem Frauenhaus ist deshalb weit mehr als ein Dach über dem Kopf. Sozialarbeiterinnen wie Rita Schön helfen den Frauen, die Kinder in einer neuen Schule anzumelden, begleiten sie bei Sorgerechtsprozessen, eröffnen mit ihnen ein Konto und organisieren die dafür notwendige Geburtsurkunde, die die wenigsten Frauen bei der Flucht mitgenommen haben.
All das kostet Geld. Weit über tausend Euro monatlich pro Frau und pro Kind für Betreuung und Miete - ohne Essen. Wenn eine Frau Hartz IV bekommt, werden diese Kosten übernommen. Wer darauf keinen Anspruch hat, muss selbst zahlen oder kann nicht im Frauenhaus unterkommen. Immer wieder kommt es vor, dass Rita Schön Frauen nicht beherbergen kann. Wie kürzlich eine Mutter mit drei Kindern, die Rita Schön nicht im Frauenhaus aufnehmen konnte: "Mit solchen Situationen oder Familien, die wir so gehen lassen müssen, da kommen wir einfach nicht drüber weg. Sie gehen ins Ungewisse, sie gehen in die Obdachlosigkeit, und das mit Kindern. Das kann man nicht vergessen."
Forderung: Mehr Frauenhäuser, besser finanziert
Das Problem, dass nicht alle schutzbedürftigen Frauen einen Platz im Frauenhaus bekommen, ließe sich lösen. Eine Konvention des Europarats, die sogenannte Istanbul Konvention, die auch Deutschland ratifiziert hat, fordert viel mehr Frauenhausplätze. Momentan gibt es 6.800 Plätze. Die Konvention empfiehlt aber 21.400 Plätze , also 2,5 pro 10.000 Einwohner. Das heißt, es fehlen rund 14.600 Plätze oder 770 Frauenhäuser mit durchschnittlich 19 Plätzen. Gäbe es diese Anzahl an Plätzen, ist davon auszugehen, dass in jedem Frauenhaus immer ein freier Platz zur Verfügung steht. Für diese Anzahl an Betten gibt es aber nicht genug Geld vom Staat.
Rita Schön fordert aber nicht nur mehr, sondern auch eine andere Art der Finanzierung. Sie will, dass Frauenhäuser pauschal als Projekte und nicht über Tagessätze finanziert werden. Dann wären die Frauenhäuser nicht darauf angewiesen, das Geld über die Frauen zu bekommen. Nur dann könnten alle Frauen aufgenommen werden. "Momentan lassen wir die Allerschwächsten im Stich", so Schön.
Bundesregierung will Geld geben
Im September hat Frauenministerin Franziska Giffey angekündigt, das Thema angehen zu wollen. Es soll Geld geben, einmalig 35 Millionen Euro in den nächsten zwei Jahren. Und in der Tat können damit einige neue Frauenhäuser gebaut werden. Dennoch ist Rita Schön nicht überzeugt: "Das ist ein Tropfen auf den heißen Stein. So kriegen wir Frauenhäuser nicht finanziert." Was sie sich wünscht, ist eine zuverlässige und vor allem langfristige Finanzierung, zu der sich der Bund verpflichtet. Denn bislang sind Frauenhäuser eine freiwillige Leistung der Kommunen. Geld vom Bund kann zwar ein Anreiz für die Kommunen sein, aber wenn eine Gemeinde kein Frauenhaus bereitstellen will, muss sie das wohl auch künftig nicht.
* Alle Namen wurden von der Redaktion geändert
**Anmerkung der Redaktion: In Ihrer Anmoderation zu diesem Beitrag hatte Anja Reschke einen Fall aus Altdorf erwähnt, bei dem sich im Nachhinein herausgestellt hat, dass es kein Gewaktdelikt gab. Eine ältere Dame war eines natürlichen Todes gestorben, ihr Partner hatte allerdings zunächst angegeben, sie erwürgt zu haben. Dies erwies sich bei der Obduktion aber als haltlos. Das Verfahren wurde eingestellt. Wir bedauern diesen Fehler und bitten um Entschuldigung.