Stand: 22.10.2019 15:47 Uhr

Betrugsanfällig: Intensivpflege zieht Kriminelle an

von Anne Ruprecht und Simona Dürnberg
Yonca I. und ihr Sohn Yasin © NDR Foto: Screenshot
Yonca I. hat einen schwerkranken Sohn, der gepflegt werden muss. Mit der Firma Medicor machte sie keine guten Erfahrungen.

Sie hatte von Anfang an ein ungutes Gefühl, erzählt Yonca I.. Der Chef des Pflegedienstes sah ihr nicht in die Augen, als er das erste Mal vorbeikam. Er kam ihr nicht seriös vor. Doch sie hatte keine Wahl. Sie musste ihm und seiner Firma das Leben ihres schwerkranken Sohnes anvertrauen. Denn als der 9-jährige Yasin im Frühling 2018 aus dem Krankenhaus entlassen wird, benötigt er sofort eine 24-Stunden-Betreuung durch einen Intensivpflegedienst zu Hause in Lübeck. Yasin atmet durch eine Kanüle in der Luftröhre, ständig muss er überwacht werden, immer besteht die Gefahr, dass er erstickt.

"Ich vertraue denen nicht"

Doch es findet sich so schnell kein Intensivpflegedienst, der bereit ist, die Versorgung von Yasin zu übernehmen. Am Ende sagt nur einer zu: Die Firma Medicor Pflege aus Grömitz. Ihr vages Gefühl bestätigt sich schon bald. Denn der Pflegedienst schickt ihr offenbar immer wieder nur Hilfskräfte statt Fachkräfte. "Ich vertraute denen nicht", sagt Yasins Mutter, der die mangelnde Expertise der Kräfte auffiel. Sie hakt nach: "Ich habe gefragt: Was ist das für ein Gerät? Und sie schaut mich an und wusste es nicht", erinnert sie sich. "Es war Sauerstoff." 

Hilfskräfte sind für den Jungen lebensgefährlich, für die Pflegefirma sind sie billige Arbeitskräfte. Und noch günstiger ist es offenbar, wenn sie gar niemand schicken. Und so muss die Mutter nächtelang allein am Bett ihres Sohnes wachen, so erzählt sie, aus Angst, ihr Sohn könnte sterben. Erst nach Monaten findet sie einen neuen Intensivpflegedienst, mit dem sie bis heute zufrieden ist.

VIDEO: Panorama 3 (29 Min)

Die dubiosen Praktiken des Artur M.

Die Firma Medicor Pflege hatte ihren Sitz in Grömitz, Schleswig-Holstein. Die Geschäfte führte ein Mann, der sich Artur M. nannte. 2017 kommt er nach Grömitz, stellt Pflegekräfte ein und übernimmt bald Intensivpatienten in Lübeck, Kiel, Lütjenburg und Hamburg. Die Versorgung von Intensivpflegepatienten ist ein sensibler Bereich und gleichzeitig besonders lukrativ. Rund 25.000 bis 30.000 Euro pro Patient und Monat zahlen Krankenkassen für die Versorgung von beatmeten Intensivpflegepatienten.

Ljubov Amirov © NDR Foto: Screenshot
Ljubov Amirov arbeitete für Medicor und bekam die dubiosen Geschäftspraktiken von Artur M. mit.

Im Interview mit Panorama 3 gibt eine Frau Einblick in offenbar dubiose Geschäftspraktiken des Pflegedienstes. Ljubov Amirov war Stellvertreterin von Artur M. Sie erzählt, er habe selbst engste Mitarbeiter wie sie ferngehalten von wichtigen Dokumenten und Abrechnungen. Irgendwann seien die ersten Angehörigen mit fragwürdigen Rechnungen auf sie zugekommen. "Es wurde viel abgerechnet, was nicht geleistet wurde", berichtet sie: "Ich habe ihn zur Rede gestellt. Er wurde immer aggressiv, ist rausgerannt oder hat mit Akten geschmissen." Bei einer Routineprüfung durch den MDK, den medizinischen Dienst der Krankenkassen, im November 2018 läuft dann alles aus dem Ruder. Dokumente fehlen, Abrechnungsunterlagen sind nicht stimmig, sie ist allein mit den Prüfern und verzweifelt, sagt sie. Erst am letzten Prüfungstag sei Artur M. aufgetaucht, erinnert sich Amirov. Er habe mitgeteilt, man ziehe nun um, die Firma Medicor sei bereits verkauft, es gebe schon einen neuen Pflegedienst, Fachpflege Nord, im benachbarten Neustadt. Ein Umzug quasi über Nacht 13 Kilometer weiter. Sie geht mit. Erst viele Wochen später schafft sie es zu kündigen.

Firmenumzug quasi über Nacht

Ein Umzug quasi über Nacht in eine neue Firma. Die dubiosen Geschäftspraktiken gehen nach Panorama 3 Recherchen offenbar auch dort weiter. Ein ehemaliger Mitarbeiter der Firma Medicor, der als einfache Pflegekraft angestellt war, erfährt bei einem Anruf bei den Krankenkassen, dass er, ohne es zu wissen, schon ein halbes Jahr als Pflegedienstleiter für diese neue Firma Fachpflege Nord angemeldet ist. Er wurde offenbar benutzt, um die Zulassung des neuen Pflegedienstes bei den Kassen zu erschleichen. Dabei wurden Kopien von Zeugnissen, Urkunden und Weiterbildungsnachweise eingereicht, die er Monate zuvor Artur M. ausgehändigt hatte. Außerdem ein Arbeitsvertrag als Pflegedienstleitung - angeblich von ihm unterschrieben. Doch die Unterschrift, so sagt er, sei eine Fälschung. Inzwischen hat er Anzeige wegen Urkundenfälschung erstattet.

Intensivpflege besonders lukrativ für Betrüger

Dina Michels © NDR Foto: Screenshot
Dina Michels geht bei der Kaufmännischen Krankenkasse Hannover Betrugsfällen nach.

Bei den Krankenkassen gibt es seit einigen Jahren eigene Ermittlerteams, die sich nur mit möglichen Betrugsfällen im Gesundheitswesen beschäftigen. Allein Betrugsfälle in der Pflege kosten Kassen jährlich viele Millionen, manche Experten schätzen, der jährliche Schaden gehe hier sogar in die Milliarden. Bei der Kaufmännischen Krankenkasse Hannover (KKH) geht Chefermittlerin Dina Michels Betrugsfällen nach. Die ambulante Intensivpflege sei besonders lukrativ für Betrüger, beobachtet sie. "Das zieht natürlich Kriminelle an. Manchmal hat man regelrecht den Eindruck, dass mancher sein Geschäftsfeld verlagert von der Prostitution oder vom Drogenhandel in den Pflegebetrug - einfach weil es lukrativer ist", sagt sie.

Die Betrugsmaschen sind dabei eigentlich immer die gleichen. Pflegeleistungen werden abgerechnet, die nie erbracht wurden, oder: Teure Fachkräfte wo tatsächlich nur billige Hilfskräfte im Einsatz waren. Doch Kassenermittler wie Dina Michels müssen den Betrug mühsam beweisen, denn den Abrechnungsunterlagen selbst sieht man es meist nicht an. "Kein Pflegedienst kommt auf die Idee, das, was er falsch macht, in den Abrechnungsunterlagen zu dokumentieren", sagt Michels.

Ermittler benötigen einen Hinweis, einen konkreten Verdacht, dann müssen sich verschiedene Krankenkassen zusammentun. Denn mutmaßliche Betrüger wie Artur M. haben Patienten bei verschiedenen Kassen. Erst wenn die alle die Abrechnungsunterlagen, die noch zum Großteil handschriftlich und auf Papier vorliegen, nebeneinanderlegen und abgleichen, können sie Unstimmigkeiten aufdecken, und Betrug erkennen. Das ist arbeits- und zeitaufwendig - und spielt möglichen Betrügern in die Karten, die verdächtige Firmen schnell abwickeln, weiterziehen und einfach eine neue eröffnen.

Artur M. heißt eigentlich Valentin B. - und ist seit Jahren aktiv

Arthur M. alias Valentin B. © NDR Foto: Screenshot
Artur M. alias Valentin B. sitzt mittlerweile in Untersuchungshaft. Zu den Vorwürfen schweigt er gegenüber Panorama.

So wie im Fall von Artur M.? Nach Panorama 3 Recherchen war der Mann, der sich in Schleswig-Holstein Artur M. nannte, mit ähnlichen dubiosen Geschäftspraktiken bereits jahrelang in Nordrhein-Westfalen, außerdem in Brandenburg, Baden-Württemberg und Niedersachsen tätig. Sein wirklicher Name nach unseren Recherchen: Valentin B. Auch dort soll er auf Kosten von Kassen falsch abgerechnet, Patienten gefährdet, Mitarbeiter nicht bezahlt und immer wieder die Firmen gewechselt haben.

Inzwischen wurde Valentin B. alias Artur M. in Lübeck verhaftet. Er sitzt in Köln in Untersuchungshaft. Beim Landgericht Bonn liegen zahlreiche Anklagen gegen ihn vor, unter anderem werden ihm gewerbsmäßiger Betrug, Urkundenfälschung, Insolvenzverschleppung und das Vorenthalten von Sozialversicherungsabgaben vorgeworfen. Der Prozess soll voraussichtlich Anfang des kommenden Jahres beginnen. Auch die Staatsanwaltschaft Lübeck ermittelt wegen Abrechnungsbetruges und Insolvenzverschleppung. Zu den Vorwürfen äußert sich Valentin B. nicht gegenüber Panorama 3, seine Anwälte verweisen auf das laufende Verfahren.  

 

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Dieses Thema im Programm:

Panorama 3 | 22.10.2019 | 21:15 Uhr

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