Corona: Höheres Risiko für Arme
Das Coronavirus ist nicht der große Gleichmacher: Arme Menschen und prekär Beschäftigte sind deutlich häufiger betroffen. Doch es mangelt in den meisten Bundesländern an Daten und Lösungen, wie eine Umfrage von NDR, WDR und "Süddeutsche Zeitung" (SZ) zeigt.
Wer um fünf Uhr morgens in Bremen auf einen Bus wartet, fährt in aller Regel zur Arbeit: Ob Staplerfahrer, Paketpackerin oder Alten- und Krankenpfleger: Millionen Menschen können nicht im Home Office arbeiten.
Ein Arbeiter erzählt: "Die denken vielleicht an die Büroleute, aber wir arbeiten im Lager. Irgendwer muss das am Laufen halten. Sonst haben Sie nichts zu futtern." Abstand halten und Kontakte reduzieren? Hier fragen sich viele, wie das gehen soll: In der Freizeit solle man Abstand halten, aber die Busse seien nachmittags so voll, "da sind wir teilweise mit 60 Leute im Bus, gequetscht wie die Sardinen".
Für den Sozialwissenschaftler Stefan Sell kein überraschender Befund: "Im vergangenen Jahr, am Anfang der Corona-Pandemie, gab es die These, dass das Virus der große Gleichmacher ist, weil alle gleich betroffen sind. Aber relativ schnell haben die ersten Untersuchungen zeigen können, dass es sehr wohl eine Ungleichverteilung des Risikos gibt."
Befunde vor allem aus anderen Ländern
Befunde gibt es dazu vor allem aus den USA und Großbritannien: In einer Überblicksdarstellung aus dem September schreibt das Robert-Koch-Institut (RKI), dass "vor allem die Studien mit großer Fallzahl aus den USA und Großbritannien ein deutliches Bild zum Ausmaß der sozioökonomischen Ungleichheit" zeichneten. Demnach hätten "Menschen aus Regionen mit einem hohen Anteil an Personen mit niedrigem Einkommen ein erhöhtes Risiko für einen Krankenhausaufenthalt im Rahmen einer COVID-19 Erkrankung". In Deutschland hingegen werden diese Daten kaum erhoben, wie das RKI kritisch anmerkte.
Auf Anfrage teilt das RKI mit, dass verschiedene Studien die Lage demnächst besser aufklären sollen. Insbesondere versuche man, mit lokalen und bundesweiten Antikörper-Erhebungen "soziale Unterschiede im Infektionsrisiko" und "Daten zur sozialen und beruflichen Lage" zu analysieren. "Soziale Merkmale einzelner gemeldetenr COVID-19-Fälle" seien aber nicht Bestandteil der Meldungen ans RKI. Daher wolle man auch "Routinedaten der Krankenkassen für sozial-epidemiologische Fragestellungen zum Covid-19-Geschehen" nutzen. Gegenwärtig ist aber keine der Untersuchungen abgeschlossen.
Untersuchung zur Schwere der Verläufe
Nico Dragano, Professor für Medizinische Soziologie in Düsseldorf, hat bereits Krankenkassen-Daten ausgewertet. Er hat zusammen mit der AOK Rheinland/Hamburg untersucht, wie sich der Erwerbsstatus auf die Schwere der Erkrankung auswirkt. Dabei wurde festgestellt, dass das Risiko für Bezieher von Arbeitslosengeld, wegen Covid-19 ins Krankenhaus zu kommen, deutlich erhöht ist - bei ALG-II-Empfängern sogar fast doppelt so hoch. Im Gespräch mit Panorama kritisiert auch Dragano die Datenlage: "Gerade zum Infektionsrisiko selbst ist die Studienlage sehr, sehr dünn. Wenn man hier genauer wüsste, wo wir die Gefährdeten finden, dann hätte man natürlich bessere Möglichkeiten, auch präzise zu reagieren und diese Leute zu schützen."
Nur zwei von 16 Bundesländern haben überhaupt Daten
Doch Recherchen von NDR, WDR und SZ zeigen: 14 von 16 Bundesländern wissen gar nichts über die sozioökonomische Verteilung der Infektionsrisiken. Häufig wurde darauf verwiesen, dass von den Covid19-Patienten außer Alter und Geschlecht keine anderen Daten etwa zum Einkommen, Wohnort oder der Herkunft vorhanden seien. Nordrhein-Westfalen antwortete gar nicht. Nur in zwei Stadtstaaten gibt es zumindest grobe Zahlen: Bremen und Berlin haben Daten über die soziökonomische Betroffenheit gesammelt. Eine Konsequenz: Im stark betroffenen Bremen-Tenever gibt es nun einen Info-Point, an dem die Bewohnerinnen und Bewohner alle Fragen zu Corona mit Krankenhauspersonal besprechen können.
Berlin hat eine Untersuchung zum Wohnumfeld und der sozioökonomischen Situation der Betroffenen veröffentlicht. Ergebnis: "Je höher der Anteil der Arbeitslosen beziehungsweise Transferbeziehenden in den Bezirken ist, desto höher ist die Covid-19-Inzidenz." Weiterhin seien - wie in Bremen - dichter besiedelte Bezirke und Viertel mit vielen Einwanderern besonders betroffen.
Migranten öfter auf Intensivstationen?
Ob mehr Menschen mit Migrationshintergrund wegen Corona ins Krankenhaus müssen? Auch dazu haben die Landesgesundheitsministerien auf Anfrage keine Daten. Die "Bild"-Zeitung berichtete diese Woche von einer angeblichen "Erhebung" unter Chefärzten, wonach "90 Prozent der intubierten, schwerstkranken Patienten einen Migrationshintergrund" hätten. Auf Nachfrage von Panorama sagte der zitierte Lungenarzt allerdings, bei der angeblichen Erhebung habe es sich lediglich um "einzelne Gespräche mit befreundeten Intensivmedizinern" gehandelt. Laut dem Bericht der "Bild" soll auch RKI-Chef Lothar Wieler in einem nicht-öffentlichen Gespräch gemutmaßt haben, dass auf den Intensivstationen überdurchschnittlich viele Menschen mit Migrationshintergrund liegen. Sowohl Wieler als auch der Lungenarzt fühlen sich von "Bild" nicht korrekt wiedergegeben.
Fakt ist: Menschen mit Migrationshintergrund arbeiten überdurchschnittlich häufig in schlecht bezahlten, aber als systemrelevant geltenden Jobs, die oft nicht im Home-Office möglich sind, etwa in der Pflege, Reinigung oder Post. Sie machen laut Deutschem Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung in diesem Sektor 35,5 Prozent aus, deutlich mehr als ihr Anteil am Arbeitsmarkt von 22,9 Prozent. Und: Sie wohnen häufig in ärmeren Wohngegenden wie Bremen-Tenever.
Das hat auch in Bremen dazu geführt, dass über kulturelle Hintergründe spekuliert wurde. Sozialarbeiterin Mihdiye Akbulut sieht zwar sprachliche Barrieren, die Probleme aber hauptsächlich an anderen Stellen: "Da wohnen 300 Menschen in einem Hochhaus. Es sind Menschen, die im Mercedeswerk arbeiten, in Lebensmittelgeschäften oder als Erzieher. Viele Frauen sind in Reinigungsbetrieben. Die können alle nicht ins Homeoffice."
Datenschutz als Problem
Die Bremer Gesundheitssenatorin Claudia Bernhard von der Linkspartei ärgern die unzureichenden Daten: "Das Infektionsgeschehen in den Stadtteilen sagt erst einmal, dass die Menschen dort wohnen, aber nicht, wo sie sich infizieren. Wir bräuchten viel mehr Auswertungen von den Betrieben, von den Unternehmen. Das ist auch datenschutzrechtlich ein Riesenproblem. Was Auswertungen anbelangt, hinken wir in Deutschland wahnsinnig hinterher."