Schulschließungen: Wankelmut und Wirrwarr
Nach dem Lockdown und der Schließung der Schulen wird deutlich: Seit Monaten ignorieren die Kultusminister wissenschaftliche Empfehlungen. Wie es im Januar weitergehen soll, ist unklar.
Am letzten Schultag vor dem Lockdown herrscht Stress an der Hamburger Max-Schmeling-Stadtteilschule: Lehrer, Eltern und Schüler müssen sich von heute auf morgen auf den Fernunterricht vorbereiten. Schulleiter Philipp Scholz gibt zu, dass er sich eigentlich "über die Botschaft der Kanzlerin gefreut" hatte: "Nach den vielen harten Wochen mit vielen Corona-Fällen, die wir in der Schule hatten, war die Ankündigung, dass die Schulen erst einmal schließen, für mich nachvollziehbar", so der Schulleiter.
Doch nun ist es wieder etwas anders, denn die Hansestadt und ihr Schulsenator Ties Rabe (SPD) wollten die Schulen unbedingt offen zu halten. Statt einer Schließung wie in anderen Bundesländern sollen Lehrerinnen und Lehrer nun einerseits Fernunterricht anbieten und andererseits in der Schule unterrichten - doch zweiteilen können sie sich nicht.
Ein Virus, das nicht gern zur Schule geht?
Dabei hätte es einen Lockdown mit erneuten Schulschließungen gar nicht geben dürfen, wenn es nach der Kultusministerkonferenz (KMK) gegangen wäre. Seit Monaten verbreiten die für die Schulen zuständigen Minister das Mantra der angeblich "sicheren Schulen". KMK-Sprecher Torsten Heil sagte dazu auf Anfrage: "Die Kultusministerinnen und Kultusminister der Länder sind sich einig, dass das Recht auf Bildung von Kindern und Jugendlichen am besten im Präsenzunterricht verwirklicht werden kann. Vor diesem Hintergrund war es das gemeinsame Ziel, den Schulbetrieb mit Blick auf die konkrete Infektionslage an den jeweiligen Schulen weitestgehend offenzuhalten."
Dazu verwies man auf das angeblich niedrige Infektionsgeschehen an Schulen. Mitten im "Lockdown Light" am 19. November präsentierte der Hamburger Schulsenator Rabe seine eigene "Zahlenauswertung": Demnach wurden in den ersten acht Wochen des Schulbetriebes zwischen dem 4. August und dem 4. Oktober (Herbstferien) 372 Hamburger Schülerinnen und Schüler als Corona-infiziert gemeldet. Von diesen hätten sich aber 292 "vermutlich gar nicht in der Schule infiziert". Rabe schlussfolgerte, dass sich "zwischen dem Sommer und den Herbstferien lediglich 20 Prozent der Schülerinnen und Schüler, die in dieser Zeit als Corona infiziert gemeldet worden sind, vielleicht in der Schule infiziert haben können."
Forscher widerspricht Kultusministern
Im Interview mit Panorama verweist der Schulsenator darauf, dass "der eigentliche Skandal" sei, "dass wir jetzt seit einem dreiviertel Jahr in Deutschland über die Gefahr von Schulen reden, aber es bis heute genau darüber keine belastbaren Studien gibt."
Der österreichische Mikrobiologe Michael Wagner von der Universität Wien leitet genau so eine groß angelegte "Schul-Sars-CoV-2-Monitoringstudie" in Österreich - durchgeführt von vier Universitäten im Auftrag des Bildungsministeriums. Er ist skeptisch: "Wenn ich nur die infizierten Kinder anschaue, kann ich keine Aussage machen, woher das Virus stammt. Also, wenn der Franz infiziert war, hat man dann die ganze Klasse getestet oder hat man nur gesagt, gibt es noch andere nachweislich Infizierte in der Klasse vom Franz? Eine Aussage kann ich nur machen, wenn ich zumindest die ganze Klasse von den infizierten Schülern getestet habe, und zwar nicht nur einmal."
Solche Reihentests waren aber nicht die Grundlage der von Rabe vorgetragenen Zahlen. Forscher Wagner warnt: "Wir erheben Zahlen von Infizierten, die lustig in die Schule gehen und dann recht überrascht sind, dass sie doch infiziert sind. Man sieht, dass auch junge Kinder überraschend häufig infiziert sind, oft gleich oder sogar häufiger als erwachsene Altersgruppen. Jugendliche sind noch etwas häufiger infiziert, aber dann fällt es zu den Erwachsenen hin eben wieder ab. Das heißt, in den Schulen gibt es ein signifikantes Infektionsgeschehen. Darüber werden wir nur einen Überblick bekommen, wenn wir zufällig testen und nicht anlassbezogen."
Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
Am 24. November beauftragte die KMK endlich ein Studienprojekt zum Infektionsgeschehen an deutschen Schulen. Das Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI) teilte dazu mit, das entsprechende Projekt sei am 10. Dezember gestartet, mit einer Laufzeit von neun Monaten. "Mit den vollständigen Ergebnissen ist also erst danach zu rechnen", sagte Sprecher Andreas Fischer.
Auf die Frage, ob die Studie nicht früher in Auftrag hätte gegeben werden müssen, antwortete KMK-Sprecher Heil: "Nein, es gab und gibt in allen Ländern Studien, Zahlen und Datenerhebungen zu den Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Schulen. Viele der Erhebungen führen zu ähnlichen Ergebnissen. Die beauftragten Studien werden diese Ergebnisse auf wissenschaftlicher Basis zusammenführen."
Ende April 2020, verabschiedete die KMK ihr "Rahmenkonzept für die Wiederaufnahme von Unterricht in Schulen". Darin war die Rede von einem "Mindestabstand von 1,5 Metern" zwischen den Schülern, von "Teilung der Klassen", von "dauerhaft ausreichend großen Sitzabständen in den Klassen", von "Präsenzunterricht in einem Schichtsystem". Auch der zusätzlich mögliche Einsatz von Mund-Nasen-Bedeckungen kam zur Sprache.
Doch nach dem Sommer beschränkten sich die meisten Länder auf Masken in den Pausen und auf Fluren, nicht aber in den Klassenräumen. Auch von Klassenteilungen oder einem Abstand von 1,5 Meter zwischen den Schülerinnen und Schülern war kaum noch die Rede - regelmäßiges Lüften sollte das Allheilmittel sein.
Die Kultusminister und die "seltsame" Wissenschaft
Doch dies entsprach nicht den Empfehlungen führender Naturwissenschaftler: Im August hatte die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina unter anderem "Maskenpflicht auch im Unterricht ab Klasse fünf" und "Distanz zwischen den Gruppen durch zeitliche oder räumliche Entzerrung" empfohlen. Auch die Deutsche Gesellschaft für Virologie warnte: "Fehlende Präventions- und Kontrollmaßnahmen könnten in kurzer Zeit zu Ausbrüchen führen, die dann erneute Schulschließungen erzwingen."
Das Robert-Koch-Institut (RKI) forderte ab einer Inzidenz von 50 Fällen sollten "Masken im Unterricht aller Jahrgangsstufen getragen werden", "die Klassen geteilt werden, so dass Mindestabstand von 1,5 Metern eingehalten werden kann" und "Schulschließungen geprüft werden".
Doch statt einer Umsetzung verwunderten sich die Kultusminister lieber über die Wissenschaft: "Eigentlich müsste man die Freizeit schließen, nicht die Schulen. Kein Bundesland richtet sich nach dieser sehr seltsamen Empfehlung", so Ties Rabe im Oktober. Als die Leopoldina schließlich Schulschließungen forderte, antwortete Nordrhein-Westfalens Bildungsministerin Yvonne Gebauer (FDP), der Vorschlag sei "untauglich". Es sei ihr "völlig unverständlich, wie eine solche Äußerung von einer Akademie der Wissenschaft in die Öffentlichkeit getragen werden" könne.
Am darauffolgenden Wochenende beschlossen die Ministerpräsidenten die Schulschließungen. Bereits jetzt drängt die KMK erneut auf die schnelle Öffnung im Januar - weiterhin ohne ein wissenschaftlich fundiertes Konzept zum sicheren Betrieb.