Maßregelvollzug: Gewaltexzess statt Therapie
Nach einer Serie von Gewalttaten im Berliner Krankenhaus des Maßregelvollzugs machen Mitarbeitende dafür "akuten Personalmangel" und "dauerhafte Überbelegung" verantwortlich.
Julia Heise hat als Psychiaterin schon in viele Abgründe geblickt, aber dieser eine Tag im Dienst änderte auch ihr Leben. Anfang Februar 2020 hat ein Patient sie mit dem Messer angegriffen. Julia Heise heißt eigentlich anders, zu ihrem Schutz möchte sie anonym bleiben. Sie hat bis zu dem Angriff als Psychiaterin im Berliner Krankenhaus des Maßregelvollzugs gearbeitet - eine Mischform aus Haftanstalt und Krankenhaus. Es ist der größte Maßregelvollzug Deutschlands. Dort sitzen psychisch kranke oder schwer suchtkranke Menschen ein, die eine schwere Straftat verübt haben, aber aufgrund ihrer Krankheit nicht oder nur vermindert schuldfähig sind. Wie der Mann, der Julia Heise im Stationsflur angegriffen hat.
"Es war schlimm. Ich habe da zwischen Müllsäcken um mein Leben gekämpft", erzählt sie. Der Patient hatte ihr aufgelauert, ihr mit der Faust ins Gesicht geschlagen und sie an den Haaren zu Boden gerissen. Plötzlich hatte er ein angespitztes Frühstücksmesser in der Hand und stach immer wieder damit zu. "Ich glaube, was er plante war, mir direkt in das Auge zu stechen und darin mit dem Messer herumzuwühlen. Er wollte mich töten." Andere Patienten ziehen den Mann von ihr herunter und retten die Ärztin schließlich.
Personalmangel als Ursache?
Was Julia Heise zu dem Zeitpunkt noch nicht wusste: Der Mann hatte bereits etwa ein Jahr zuvor eine Kollegin brutal zusammengeschlagen und auch damals schon ein Messer dabei. "Ich hatte großes Glück, dass eine Reinigungskraft auf Station war", erzählt Annett Schmidt. "Sie war so mutig und hat den Patienten von mir gerissen." Auch Annett Schmidt heißt eigentlich anders, sie arbeitete bis vor kurzem als Ärztin im Maßregelvollzug. Sie warnte die Klinikleitung nach ihrem Vorfall schriftlich und eindringlich vor der Gefährlichkeit des Täters. Er erfordere "besondere Aufsicht". Doch stattdessen wurde er von einer großen Station zur nächsten verlegt und durfte sich dort weiter unbegleitet bewegen.
"Als ich das erfahren habe, war ich wütend. Meiner Ansicht nach ist einfach zu wenig Personal da, das die Lage kontrollieren könnte", sagt die Ärztin Julia Heise. "Ich denke, dass es wieder passieren kann. Dass es nochmal schwere Übergriffe geben wird."
Gefährliche Lage
Mitarbeitende bezeichnen die Lage im Berliner Maßregelvollzug als gefährlich. So auch Harald Friedrichs. Er hat fast 40 Jahre im Berliner Maßregelvollzug als Therapeut gearbeitet, bis er vor kurzem in Rente ging. "Es gibt immer mehr Gewalt in der Klinik - durch die Zustände. Die Gefährlichkeit der Patienten untereinander und für Mitarbeiter ist in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Und das dürfte nicht sein", sagt Friedrichs. Überall im Krankenhaus des Maßregelvollzugs (KMV) gebe es zu wenig Mitarbeiter, die Stationen seien viel zu groß. "40 Patienten, die so schwere Störungen haben, kann man nicht mit zwei Pflegekräften und ein, zwei Therapeuten, was häufig der Fall ist, Herr werden." Weil die Zeit für die Patienten fehle, steige bei ihnen das Aggressionspotenzial und der Frust, erzählt er.
Gewalt massiv gestiegen
Interne Dokumente, die Panorama und "Zeit" vorliegen, belegen, dass die Einrichtung offenbar seit Jahren mit Patienten überbelegt ist, während immer mehr Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegekräfte fehlen. So könne der Maßregelvollzug seiner Aufgabe - die Therapie der Patienten zum Schutz der Gesellschaft vor ihnen - nicht mehr nachkommen. Therapie finde kaum mehr statt, wie mehrere Mitarbeitende unabhängig voneinander bestätigen. Ohne Therapie für die psychisch kranken Straftäter, sagt Therapeut Friedrichs, steige die "Gefahr, dass diese Menschen wieder entgleisen, dass das Monströse ihrer Tat sich wiederholt."
Interne Zahlen zeigen, wie massiv die Gewalt im Berliner Maßregelvollzug gestiegen ist: 2019 soll es bereits 180 Angriffe auf das Personal gegeben haben. In diesem Jahr sollen schon 300 Übergriffe gemeldet worden sein.
Zu wenig Isolierzimmer, aber immer gefährlichere Patienten
Es mangelt im Berliner Maßregelvollzug aber nicht nur an Therapie, sondern auch an so genannten "Isolierräumen". Das sind kleine Einzelzimmer, in denen Patienten in einer akuten psychischen Krisensituation eingeschlossen und fixiert werden können. Kommt ein Patient in einen Isolierraum, wird er streng überwacht. So sollen Mitpatienten und Mitarbeitende, aber auch die Patienten vor sich selbst geschützt werden.
In einer internen E-Mail vom Juli 2020 berichtet eine Abteilungsleiterin von einem offenbar typischen Nachtdienst einer Station im Maßregelvollzug: "Ein Herr M. kam aus der Rettungsstelle zurück [...]. Der hatte zuvor sich eine Zigarette im Auge ausgedrückt. Auf der 3b hatte ein Patient im Einschlusszimmer seine Matratze angezündet. Auf der 10d hat Herr R. [...] die [Verordnungszimmer]-Tür eingeschlagen." Es gab demnach nicht für alle genügend Isolierzimmer: Zwei konnten mithilfe anderer Stationen isoliert werden, Herr R. musste notgedrungen in seinem eigenen Zimmer bleiben. Für weitere Krisen hätte es keine Lösung gegeben.
Ärzte und Ärztinnen schildern, dass sie in solchen Situationen immer wieder zu riskanten Entscheidungen genötigt seien: Wenn ein Patient isoliert werden muss, weil er akut gefährlich ist, muss oftmals ein anderer Patient dafür den Isolierraum verlassen - auch wenn er dafür eigentlich noch nicht bereit ist. Ein großes Risiko, sagt Harald Friedrichs: "Wir können das nicht gewährleisten, dass dieser Patient also ausreichend überwacht wird. Insofern nehmen wir in Kauf, dass er sich oder andere erheblich verletzt."
Drogenkonsum statt Entzug?
Im Maßregelvollzug sind auch schwer drogenabhängige Gewalttäter untergebracht, die einen Entzug machen sollen. Doch anscheinend gelangen regelmäßig Drogen in die Einrichtung. Auf der Suchtstation, eine der größten Deutschlands, ist es laut Ärzten und ehemaligen Patienten kein Problem, an Suchtmittel aller Art zu kommen. Bei diesem Personalstand könne man gar nicht ausreichend kontrollieren, berichten Mitarbeitende. Allein um ein Zimmer zu durchsuchen, brauche es viele Personen. Psychiaterin Dr. Julia Heise erzählt, dass auch sie Probleme mit Drogen in der Einrichtung erlebt hat. "Was ich mitbekommen habe, die Drogen wurden teilweise über den Zaun geworfen oder durch Besucher illegal mitgebracht." Es gebe auch einen Handel unter den Patienten, berichtet die Ärztin.
Brandbrief an die zuständige Senatorin
Die Klinikleitung will sich zu den Vorwürfen nicht äußern, verweist stattdessen auf die zuständige Gesundheitssenatorin von Berlin, Dilek Kalayci. Diese ist über die Missstände seit längerem informiert, wie ein Brandbrief, der Panorama und "Zeit" vorliegt, dokumentiert. Gleich mehrere Abteilungsleiter des Berliner Maßregelvollzugs haben ihn im März 2020 unterschrieben, nachdem sie offenbar bei der Klinikleitung gescheitert waren. In dem Brief warnen sie vor dem "akuten Personalmangel", vor "dauerhafter Überbelegung" und dem Mangel an Isolierzimmern.
"Wir sind gezwungen, auch sehr gefährliche Patienten auf personell unterbesetzten und räumlich ungeeigneten Stationen zu betreuen", heißt es in dem Schreiben an die Senatorin. Weiter berichten sie: "Regelmäßig zeigen sich Kollegen aus anderen Bundesländern erschüttert über die 'Berliner Zustände'." Die Abteilungsleiter ziehen ein drastisches Fazit: "Aus ärztlicher Sicht können wir, die die Verantwortung für die Behandlung der Patienten, aber auch eine Fürsorgepflicht gegenüber unseren Mitarbeitern haben, diese nicht mehr übernehmen."
Es klingt wie eine Kapitulation vor den Zuständen. Von der Gesundheitssenatorin erhielten sie darauf keine Antwort, auch nicht nach erneuter Bitte. In ihrer Verzweiflung wandten sich die Brandbrief-Schreibenden im Juli dann auch an den Regierenden Bürgermeister Berlins, Michael Müller. Die Lage im größten deutschen Maßregelvollzug sei "katastrophal", das Gewaltpotenzial als Konsequenz gestiegen. Auch diesmal mahnten sie, dass sie "die Verantwortung für die (hiesigen) Zustände nicht mehr übernehmen werden".
Senat räumt Personalproblem ein
Auf Anfrage von Panorama und "Zeit" teilt der Regierende Bürgermeister Müller mit, er habe den Brief an die Gesundheitssenatorin weitergeleitet und darum gebeten, dem Vorgang nachzugehen. Senatorin Kalayci erklärt auf Anfrage zu dem Brandbrief: "Das Schreiben ist bekannt und wurde berücksichtigt." Auf weitere Fragen hin räumt sie den Personalmangel ein: Er liege einerseits am Anstieg der Einweisungen und andererseits an der "Bewerberlage", die "schwierig" sei. Auch gibt die Senatsverwaltung zu, es könne "zu Ausfällen von therapeutischen Angeboten [...] kommen". Die Zahl der Übergriffe auf das Personal könne die Senatsverwaltung nicht nachvollziehen. Auf die Frage nach der massiven und dauerhaften Überbelegung teilt sie mit, man stehe "vor der Aufgabe, weitere Vollzugsplätze zu schaffen". Die Zahl der Isolierräume habe man erhöht. Außerdem strebe man eine Gesetzesänderung an, um den Anstieg der teils unsinnigen Einweisungen zu bremsen.
Harald Friedrichs findet, dass Berlins Regierung zu lange weggeschaut hat. "Sie sind dafür verantwortlich, dass die Gewalt immer weiter und weiter eskaliert. Mit all den Konsequenzen, die das noch haben kann", sagt er. "Es ist wirklich eine Zuspitzung der Verantwortungslosigkeit."