Verurteilt, drogensüchtig - und auf freiem Fuß
Jan lehnt im Türrahmen einer Gartenlaube, schaut nach draußen in den Regen und raucht. Er wartet. Jan ist verurteilter Straftäter auf freiem Fuß und drogenabhängig. Sein Leben ist schon ziemlich kaputt und er will nicht, dass es noch schlimmer wird. Deshalb ist es sein größter Wunsch, endlich in Haft zu dürfen. Damit er seine Strafe absitzen, mit dem Drogenentzug beginnen und in ein neues Leben starten kann. Darauf wartet der 27-Jährige inzwischen seit elf Monaten.
Verurteilt wurde Jan wegen schwerer räuberischer Erpressung. Unter Drogeneinfluss hatte er eine Tankstelle bei Hildesheim überfallen. Wegen eingeschränkter Schuldfähigkeit kombinierten die Richter die Freiheitsstrafe von zwei Jahren mit einer Suchttherapie. Das bedeutet, sie ordneten den Maßregelvollzug an. Aber in Niedersachsen ist kein Platz frei - also ist Jan auf freiem Fuß.
Mehr als 100 Straftäter warten auf Therapieplatz
Diesen Engpass gibt es nicht nur in Niedersachsen. "Es ist ein deutschlandweites Problem, das unbemerkt immer größer wird", sagt der Bremer Strafverteidiger Helmut Pollähne, dessen Fachgebiet der Maßregelvollzug ist. "Die Verurteilungen zum Drogenentzug steigen seit Jahren permanent an, doch die Bundesländer kneifen die Augen zu." Pollähne bemängelt, dass weder ausreichend Therapieplätze geschaffen würden, noch ein Konzept entwickelt werde, wie man mit der Gesamtproblematik verfahren wolle.
Eine Umfrage von Panorama 3 bei den Gesundheits- und Justizbehörden ergab, dass derzeit in sieben Bundesländern mehr als 100 zu einem Drogenentzug verurteilte Straftäter auf einen Therapieplatz warten. Allein in Nordrhein-Westfalen warteten zum Zeitpunkt der Umfrage 57 Straftäter auf einen frei werdenden Platz. Das Problem mit den Wartelisten besteht nach Aussage Axel Desseckers von der Universität Göttingen schon länger. "Man versucht, das nicht unbedingt an die Öffentlichkeit zu tragen", sagt der Kriminologe und Strafrechtsexperte. "Durch den Ausbau von Kliniken ist versucht worden, das Problem zu lösen. Aber das hat nicht funktioniert."
Wartezeit in Niedersachsen ein Jahr und länger
Auffällig lang ist vor allem die Wartezeit derjenigen Straftäter, die auf freiem Fuß sind. In Niedersachsen liegt sie bei bis zu einem Jahr oder länger. Diesen Umstand halten Experten für alarmierend, man gehe so das Risiko ein, neue Straftaten zu provozieren. Strafverteidiger Pollähne warnt: "Wenn man die drogensüchtigen Straftäter monatelang sich selbst überlässt und nicht therapiert, kann das schnell außer Kontrolle geraten und dazu führen, dass sich die Person selber oder auch Dritte gefährdet." Kriminologe Dessecker weist außerdem darauf hin, dass der Therapieerfolg auch davon abhängt, dass die Straftäter eine Behandlungseinsicht haben. "Man darf sie nicht monatelang warten lassen, denn sonst schwindet die Einsicht und damit auch die Aussicht auf Erfolg", sagt er. Strafverteidiger Pollähne sieht bei den in Haft wartenden Straftätern vor allem juristische Probleme. Seiner Erfahrung nach häufen sich bei ihnen die Fälle von unrechtmäßig langem Freiheitsentzug.
Maßregelvollzug als Randproblem der Politik
Während der Wartezeit fühlt sich für die verurteilten Straftäter keine Stelle zuständig - weder die Staatsanwaltschaft noch das Gesundheitsministerium. Dirk Hesse, Chefarzt im Maßregelvollzug Moringen im südlichen Niedersachsen, kennt diese Ignoranz. "Der Maßregelvollzug ist insgesamt teurer. Es ist eine Blackbox, keiner will sich mit Verrückten umgeben. Die haben keine Lobby und deshalb sind es Randprobleme der Politik. Mit dem Neubau einer JVA können Sie mehr Stimmen bei einer Wahl einholen als wenn Sie eine Irrenanstalt in die Stadt stellen."
Gesundheitsministerin Rundt: Wartezeit "noch aktzeptabel"
Elf Monate warten - das ist für jemanden wie Jan eine lange Zeit. Er mit schweren Depressionen zu kämpfen, schon seitdem er zwölf Jahre alt ist. Noch immer steht er auf der Warteliste einer niedersächsischen Klink. Gesundheitsministerin Cornelia Rundt (SPD), verantwortlich für den Maßregelvollzug in Niedersachsen, bemüht sich um die Schaffung neuer Plätze. Sie weiß um die Engpässe und räumt Probleme ein. Den Fall Jan kennt sie natürlich nicht im Detail, eine so lange Wartezeit sei zwar "nicht schön", aber "noch akzeptabel".
Wie es mit Jan weiter geht, ist ungewiss
Die ersten Wochen nach dem Urteil hatte Jan sich ganz gut im Griff. Jetzt, so erzählt er, "verschwimmt das immer mehr, die Kontrolle zu haben." Er spüre Wut in sich aufsteigen und wisse nicht, wie lange er das Spiel noch mitmachen solle. Drogen nimmt Jan nach wie vor. Vor drei Wochen wurde er deshalb von der Polizei aufgegriffen. Wann der 27-Jährige endlich die Chance auf ein neues Leben bekommt, ist ungewiss. Wie er die weitere Wartezeit meistert, ebenso.