Nordsyrien: Warum ein Deutscher sein Leben für die Kurden riskiert
Aus Sicht der Türkei hatte der Sieg über den "Islamischen Staat" (IS) in Nordsyrien einen hohen Preis. Auf dem Gebiet des niedergerungenen "Kalifats" ist eine kurdische Selbstverwaltung entstanden, die politisch der PKK (Kurdische Arbeiterpartei) nahesteht. Die kurdischen Kämpfer halfen der US-Luftwaffe und Spezialeinheiten beim Feldzug gegen die Islamisten. Ohne diese opferbereiten kurdischen Bündnispartner am Boden wäre es den USA nicht so schnell gelungen, den IS aus den nordsyrischen Städten Raqqa, Manbidsch, Kobane und Tell Abyad zu vertreiben. Im Sommer 2014, als die IS-Terrortruppe sich vom West-Irak aus nach Syrien ausbreitete, retteten Guerilla-Einheiten der PKK zudem viele Angehörige der Jesiden, einer religiösen Minderheit, vor dem Massenmord.
"West-Kurdistan" oder türkische Sicherheitszone?
Nun sagt der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan, dass sich an seiner Südgrenze wieder eine Terrortruppe festgesetzt habe, nämlich die Partei "PYD" und ihr militärischer Arm "YPG", hinter denen in Wahrheit die PKK stecke. Das Autonomieprojekt entlang der türkischen Grenze, für das die Kurden den Namen "Rojava" ("Der Westen", gemeint sind die west-kurdischen Gebiete; in der politischen Geographie der PKK und ihr nahestehender Organisationen bilden etwa die kurdisch besiedelten Gebiete im Iran "Ost-Kurdistan") geschaffen haben, betrachtet Erdogan als Bedrohung. Er will Rojava militärisch plattmachen. Nach dem von US-Präsident Donald Trump angeordneten Rückzug der amerikanischen Truppen aus Nordsyrien hat der türkische Präsident freie Bahn. Einen rund 500 Kilometer langen und 30 Kilometer breiten Streifen südlich der türkischen Grenze, also das Kerngebiet von Rojava, hat Erdogan zur "türkischen Sicherheitszone" erklärt. In den mittleren Teil dieses Streifens sind türkische Soldaten, unterstützt von bewaffneten islamistischen Gruppierungen, einmarschiert. Kurdische Kämpfer haben sich von dort zurückgezogen. Zehntausende kurdische Zivilisten sind vor den türkischen Kräften geflüchtet. Wie es in Rojava weitergeht, ist unklar. Das kurdische Autonomieprojekt stehe "vor dem Aus", schrieben deutsche Zeitungen.
Ein Deutscher in Rojava
In dieser Situation bleibt ein 29-jähriger Deutscher im nordsyrischen Derik, einer Stadt von rund 60.000 Einwohnern im östlichen Zipfel des kurdischen Autonomiegebiets, wenige Kilometer von der türkischen Grenze entfernt. Felix, so nennt sich der junge Mann aus Hamburg, kam vor anderthalb Jahren hierher. Panorama hat ihn in Derik mehrfach per Skype-Videoschalte kontaktiert. "Ich war beteiligt am Aufbau unterschiedlicher zivilgesellschaftlicher Projekte. Unter anderem haben wir eine Kampagne, die ökologische Projekte hier unterstützt", berichtet Felix, der betont, für die zivile Selbstverwaltung und nicht für den bewaffneten Arm der Kurden zu arbeiten. Der junge Mann ist nicht der einzige Aktivist aus Deutschland, der jetzt sein Leben für Rojava riskiert. Ein deutscher Mitstreiter ist seit dem Einmarsch der Türken schon umgekommen.
Sehnsuchtsort für Linke
Rojava ist in den vergangenen Jahren zu einem Sehnsuchtsort linker Aktivisten aus Deutschland und aller Welt geworden. Kollektive Wirtschaft, Gleichheit von Männern und Frauen, Verwaltung "von unten" und Widerstand gegen einen als diskriminierend und autoritär wahrgenommenen türkischen Staat, das sind politische Ideen, die sich hier, so glauben viele, verwirklichen lassen. Er fühle "eine tiefe Verbundenheit mit den Menschen hier", berichtet Felix im Skype-Interview mit Panorama. "Rational kann man das vielleicht nicht beantworten, aber emotional spielt es eine große Rolle, dass das, was man hier aufgebaut hat, das ist, woran man glaubt."
Alltag in Rojava
In Derik seien noch keine türkischen Soldaten einmarschiert, so der deutsche Aktivist Felix. Die autonomen Strukturen der Kurden seien dort noch intakt, allerdings "in einer gewissen Kriegsrealität". Felix hat selbst aufgenommene Videosequenzen geschickt, die den Alltag in Derik während der vergangenen Tage dokumentieren. Zu sehen sind Begräbnisse von angeblich im Kampf Gefallenen und eine Demonstration einiger hundert Menschen, die sich gegen den türkischen Einmarsch richtet. Einige halten Poster von Abdullah Öcalan hoch, dem seit 20 Jahren in der Türkei inhaftierten PKK-Chef. An der Spitze des Protestzuges sind bewaffnete Männer und Frauen zu sehen.
Um der Revolution willen
"Für mich selber habe ich den Entschluss gefasst, das ich bleiben möchte so lange es geht", erzählt Felix. Ob das Ausharren in Derik nicht selbstmörderisch sei, wollen wir von ihm wissen. "Man kann in Büchern viel über Revolutionen lesen. Aber hier haben wir die Chance, mal an einer teilzunehmen. Was kann es Schöneres geben, als für seine Werte einzustehen?", meint er. Aber der 29-Jährige gibt zu, dass in Derik auch große Angst herrsche, sowohl vor einem Einmarsch türkischer Soldaten als auch vor marodierenden islamistischen Banden, die es selbst während der Hochzeit des IS nie bis Derik geschafft hatten. In der Stadt, die mit arabischem Namen "al-Malikiyya" heißt, leben seit Generationen auch viele Christen.
Zufluchtsort Irak?
Die Schule in Derik habe eigentlich weiter geöffnet. Aber in einer Schulklasse seien beispielsweise bloß zwei Mädchen aufgetaucht, erzählt Felix. "Die Familien sind entweder schon geflohen oder haben Angst, ihre Kinder in die Schule zu schicken." Es drohe "eine ethnische Säuberung", warnt er. "Wenn die Türkei hier aus der Luft angreift, werden die Menschen natürlich fliehen. Nur, wo sollen sie hin?"
Ein Zufluchtsort könnte irakisch-Kurdistan sein. Den einzigen Grenzübergang dorthin kontrollieren kurdische Kämpfer. Die syrische Stadt Hasake, die südwestlich von Derik außerhalb der von Erdogan ausgerufenen "Sicherheitszone" liegt, könnte auch als Fluchtpunkt dienen. Aber zwei Millionen Menschen, so viele leben in dem Streifen entlang der türkischen Grenze, könnte Hasake nicht aufnehmen. Felix will einstweilen in Derik bleiben, aber schließt eine Flucht nach Hasake nicht aus, "wenn die Front näher rückt". Viele Erwachsene seien aber auch zur militärischen Verteidigung von Derik bereit. "Ich kenne Leute, die ihre Kinder weggeschickt haben, aber selbst hier geblieben sind, um Widerstand zu leisten", sagt er.
Der deutsche Aktivist twittert aus Derik:
Zwischen Assad, Erdogan und Putin
Der Deutsche vermittelt also ein Bild der Unsicherheit und Ungewissheit. Wie genau es für die Stadt Derik und die kurdische Selbstverwaltung weitergehen wird, weiß er nicht. "Fremde Mächte, die hier überhaupt keine Bevölkerung haben, entscheiden über unsere Köpfe hinweg. Unser Schicksal hängt von deren Entscheidungen ab. Das sagen hier die Menschen", so Felix. Erkennbar ist die starke Rolle von Russlands Präsident Wladimir Putin, der sich vorige Woche mit Erdogan traf. Putin will offenbar eine militärische Eskalation zwischen Kurden und Türken verhindern und gleichzeitig den Einflussbereich seines Schützlings Baschar al-Assad, dem syrischen Machthaber in Damaskus, ausweiten. Syrische Soldaten und russische Militärpolizisten sind von Südwesten ebenfalls in Teile der kurdischen Selbstverwaltung vorgerückt. Putins und Assads Interesse besteht darin, dass Syrien seine Souveränität wieder bis zur türkischen Grenze im Nordosten ausübt. Rojava könnte so zwischen Assad und Erdogan zerrieben werden, zumal die US-Armee , die bisher die Sicherheit der Kurden garantiert hatte, sich plötzlich zurückzog. Amerikanische Soldaten halten lediglich noch Ölfelder im Osten Syriens, offenbar, damit Assad sie nicht wieder in Besitz nehmen kann. Ob die Einkünfte aus den Ölverkäufen wie in den vergangenen Jahren weiterhin den Kurden zugute kommen, ist unklar.
Letzte Hoffnung Diplomatie
Einen Verteidigungskampf um jeden Preis sähen die Kurden kritisch, sagt Felix. "Man muss auch an die Zivilbevölkerung denken." Daher müsse auch die kurdische Seite zu Kompromissen bereit sein, betont er. "Eine diplomatische Lösung" befürwortet er. Die könne am besten "in direkten Gesprächen zwischen PKK-Chef Öcalan und der Türkei" erreicht werden. Vielleicht könne Realpolitik noch ein Rumpf-Rojava bewahren. Die Stadt Derik könnte dann vielleicht doch unter kurdischer Selbstverwaltung bleiben, so die letzte Hoffnung.