Warum Krankenhäuser nicht aus Fehlern lernen
"Ich habe ordentlich geschrien", sagt Tina Havemeister. Während sie auf dem Wochenmarkt arbeitet, rollt ihr eine 80 Kilogramm schwere Schublade über den linken Fuß, zertrümmert ein Zehgelenk. Die Folge zunächst: Der Zeh ist verkrüppelt, ihr linker Fuß passt in keinen Schuh mehr. "Das war eine wahnsinnige Druckstelle, die mir höllische Schmerzen bereitet hat." Tina Havemeister geht zum Arzt. Der will den Zeh am linken Fuß mit einer Operation wieder richten, drei Monate später soll der Termin sein. Einen Tag vor der OP stellt sich Tina Havemeister im Lubinus Clinicum in Kiel vor. Einer der Stationsärzte führt das Patientengespräch und markiert das linke Bein - eine Sicherheitsmaßnahme, damit es am darauffolgenden Tag keine Verwechslung gibt. "Dann habe ich gelacht und gesagt: Ich habe ein gesundes und ein krankes Bein. Das wird ja wohl auseinander zu halten sein. Ich bin ja keine Krake."
Fuß bei OP verwechselt
Doch nach der OP bemerkt Tina Havemeister einen Fehler und alarmiert einen Assistenzarzt: "Er hat die Wärmedecke von meinem linken Fuß genommen und gesagt: 'Ach Du Scheiße!'" Die Markierung am Fuß hat nicht geholfen, die Ärzte haben den gesunden Zeh des rechten Fußes operiert. Der Operateur, den sie seit dem Vorgespräch drei Monate zuvor nicht mehr gesehen hat, entschuldigt sich, bringt Blumen. Darüber hinaus zahlt das Lubinus Clinicum Tina Havemeister umgehend eine Soforthilfe. Die Klinik teilt mit, sie bedauere den Fehler zutiefst und man habe weitere Sicherheitsvorkehrungen getroffen.
Fehlererfassung? Fehlanzeige
Verlässliche Zahlen über vermeidbare Behandlungsfehlergibt es nicht. "Man geht davon aus, dass in Deutschland 15.000 bis 30.000 Patienten versterben an vermeidbaren Fehlern, und das ist nur die kleinere Zahl", sagt Dr. Marcus Rall vom Institut für Patientensicherheit, "wahrscheinlich passieren jedes Jahr 300.000 schwere Schäden, die vermeidbar wären."
Denn um aus Fehlern zu lernen, müssten sie erst einmal erfasst werden. Grundlage wäre eine bundesweit übergeordnete Datenbank. Dafür setzt sich Ilona Köster-Steinebach vom Bundesverband der Verbraucherzentrale ein: "Ein Fehler, der in einem Krankenhaus passiert, muss in einem anderen nicht noch einmal passieren. Es muss nicht ein weiterer Patient darunter leiden." Dabei soll nicht der einzelne Arzt an den Pranger gestellt werden. Es sollen neue Strukturen geschaffen werden, um vermeidbare Fehler zu erfassen, die Hintergründe zu analysieren und geeignete Gegenmaßnahmen zu treffen.
Patientenwohl steht oft nicht im Mittelpunkt
Zuständig für solche Richtlinien wäre der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) von Krankenkassen, Ärzten und Krankenhäusern in Berlin. Also genau diejenigen, die für das Fehlermanagement erst einmal Geld bezahlen müssten. Am Ende siegen offenbar die eigenen Interessen. Patientenvertreterin Ilona Köster-Steinebach kritisiert, dass dabei nicht immer der Patient im Mittelpunkt steht: "De facto geht es dann ganz oft um die Vertretung der eigenen Interessen. Also dann im Hintergrund um Macht, um Geld und ein politisches Spiel."
Schriftlich teilt uns der G-BA mit: Man habe schon viel für die Patientensicherheit getan, sei da sehr aktiv. Ein nationales Behandlungsfehler-Register sei sinnvoll. Die Initiative müsse aber vom Gesetzgeber kommen. Die Bundesregierung gibt den Schwarzen Peter gleich wieder zurück: Man sei nicht alleine für so etwas zuständig.
Fehler auswerten, um weitere zu vermeiden
Das Uniklinikum Greifswald beispielsweise hat vermeidbare Behandlungsfehler ausgewertet. Freiwillig. Seitdem ist der Besuch des Arztes beim Patienten kurz vor jeder Operation verpflichtend. Hätte der operierende Arzt Tina Havemeister vor der OP noch einmal gesehen, persönlich den verkrüppelten Zeh des linken Fußes begutachtet und markiert, wäre wohl eher ihr richtiger Fuß operiert worden.