Blutige Grenze: Wie die EU bei Ungarn wegsieht
Jolt P. marschiert mit strammen Schritten entlang des ungarisch-serbischen Grenzzauns. Es ist ein regnerischer Tag, er trägt Kleidung im Camouflage-Look, das Haar seitlich abrasiert. "Schau hier!" sagt er und zeigt auf eine geflickte Stelle im Stacheldraht. "Hier haben Migranten versucht, den Zaun aufzuschneiden". Mit Sicherheit seien sie aber erwischt worden, fügt er schmunzelnd hinzu. "Eigentlich machen wir jeden Tag einen Fang".
Flüchtlinge, oder wie Jolt sagen würde, Migranten zu erwischen, das ist seine Aufgabe. Er gehört zur Bürgerwehr der ungarischen Grenzstadt Asotthalom. Seite an Seite mit Polizei und Militär patrouilliert er nächtlich an der Grenze, ausgestattet mit Handschellen, Pfefferspray, einer Schreckschusspistole, die er stolz präsentiert. Im Auto habe er auch noch eine Schrotflinte, sagt er.
Martialische Inszenierung
Jolt und seine Kollegen sind der ganze Stolz ihres Bürgermeisters Laszlo Toroczkai. Der Schutz seiner Stadt sei seine erste Priorität, sagt er, und damit schütze er nicht nur die Nation Ungarn, sondern auch ganz West-Europa. In einem eigens für Flüchtlinge gedrehten Video präsentiert sich Toroczkai selbst kämpferisch am Grenzzaun. "Wenn ihr nach Europa kommen wollt", so richtet er das Wort an potentielle Asylbewerber, "ist Ungarn eine schlechte Wahl." Asotthalom die allerschlechteste.
Ungarn stäubt sich gegen EU-Quote
Bedrohliche Worte eines Bürgermeisters, der zwar Vize-Präsident der rechtsextremen Partei Jobbik ist, mit seiner Grenzpolitik aber durchaus die Linie der ungarischen Regierung fährt. Ungarn war das erste Land, das während der Flüchtlingskrise einen Zaun gebaut hat, sträubte sich gegen eine verbindliche EU-Quote zur Aufnahme von Flüchtlingen. Stattdessen setzte Victor Orban von Anfang an auf Abschreckung- und machte daraus auch nie einen Hehl: "Der beste Flüchtling ist der, der gar nicht erst kommt", so Orban in einem Radio-Interview im Januar diesen Jahres, demnach sei die beste Zahl: Null.
Lob für Orban
Wenn auch die Aussagen des nationalkonservativen Ministerpräsidenten wenig überraschend daherkommen, so überrascht viel mehr das Schweigen der Bundesregierung. Denn während es im vergangenen Jahr noch Kritik an Ungarns Flüchtlingspolitik hagelte, herrscht mittlerweile vielmehr traute Einigkeit. Lächelnd statt mahnend, so zeigte sich Angela Merkel beim vergangenen EU-Flüchtlingsgipfel in Wien, Seite an Seite mit Victor Orban.
Und der Bayrische Ministerpräsidenten Horst Seehofer geht sogar noch einen Schritt weiter. Drei Mal hat er Orban bereits getroffen und wird dabei nicht müde zu betonen, wie wertvoll doch dessen Arbeit an der EU-Außengrenze sei. "Viele werden auch noch dankbar sein für das, was Orban, der ungarische Ministerpräsident, an seiner Grenze macht", so Seehofer.
Systematischen Misshandlungen
Unter den Teppich gekehrt werden dabei die zahlreichen Berichte namhafter Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch und Amnesty International, die den Staat Ungarn aufs schärfste anprangern. Von systematischen Misshandlungen ist da die Rede, hunderte von Flüchtlingen hätten unabhängig voneinander berichtet, an der serbisch-ungarischen Grenze geschlagen und von Hunden malträtiert worden zu sein. Anschließend hätte man sie einfach wieder zurück nach Serbien geworfen.
Die ungarische Regierung weist diese Vorwürfe von sich. Es sei nicht das erste Mal, so das Büro des Ministerpräsidenten, dass "Pro-Migrations-Organisationen" Ungarn attackieren würden. In Wahrheit werde der Grenzschutz Ungarns "stets im Einklang mit europäischem und ungarischem Recht" durchgeführt.
Gewalttätige Grenzschützer
Hört man sich in den Flüchtlingscamps an der serbisch-ungarischen Grenze um, scheint europäisches Recht allerdings ganz weit weg. Kaum einer hier, der nicht von Erfahrungen mit gewalttätigen Grenzschützern berichtet. Einer von ihnen ist Palwan A. Der junge Mann aus Pakistan ist auf dem Weg nach Europa in Serbien hängengeblieben. Bei seinem letzten Versuch, illegal in die EU zu gelangen, sei er von Grenzschützern mit einem Stein geschlagen worden, ein Hund habe ihn am Nacken erwischt. Er zeigt Fotos auf seinem Handy, ein stark angeschwollenes Gesicht, eine klaffende Wunde am Hinterkopf.
Palwan legt die schwere Wolldecke, die er sich gegen die Kälte um die Schultern gehängt hat, zur Seite und zieht sein T-Shirt hoch, noch immer sind Abschürfungen auf seinem Rücken zu sehen. Er habe Angst vor den Ungarn, erzählt Palwan mit leiser Stimme, doch er werde es sehr bald wieder versuchen. "Was soll ich denn sonst machen?"
Kaum möglich, legal Asyl zu beantragen
Tatsächlich macht es Ungarn Flüchtlingen fast unmöglich, "legal" Asyl zu beantragen. Zwei sogenannte Transitzonen hat es an der Grenze zu Serbien eingerichtet, wer es hier rein schafft, darf mit viel Glück in Ungarn Asyl beantragen. Allerdings kommen pro Tag nur 30 Menschen in diese Transitzonen, alleinreisende Männer haben kaum eine Chance.
So verwundert es nicht, dass es täglich immer wieder Gruppen durch den Zaun versuchen, auch wenn die Chance, es an den ungarischen Grenzschützern vorbeizuschaffen, gering ist. Bemerkenswert ist aber, mit welcher Selbstverständlichkeit die ungarische Regierung sich mit ihrer Grenzpolitik über EU-Recht hinwegsetzt. So wäre es eigentlich Ungarns Pflicht, jedem Menschen, der einmal einen Fuß auf ungarisches Territorium gesetzt hat, die Möglichkeit zu bieten, Asyl zu beantragen. Um sich dem zu entziehen, hat die Regierung in diesem Jahr eine acht Kilometer-Zone eingerichtet, innerhalb derer jeder aufgegriffene Flüchtling einfach wieder auf die andere Seite des Zauns befördert werden kann - laut ungarischem Recht völlig legal.
Der Trick mit dem Zaun
Das perfide an dieser Vorgehensweise ist, dass der Zaun sich etwa drei Meter innerhalb ungarischen Gebiets befindet. Somit kann Ungarn behaupten, es würde Flüchtlinge nicht nach Serbien schicken, sondern einfach nur auf die andere Seite des Zauns. Eine legale Grauzone also, wenn auch in seiner Konsequenz ein illegaler Pushback, wie es Lydia Gyll, Juristin bei Human Rights Watch bewertet: "Ungarn kann es drehen und wenden, wie es will, am Ende zwingen sie Flüchtlinge dazu, zurück nach Serbien zu gehen, und das ist ganz klar ein Bruch europäischen Rechts."
Doch bislang passiert auf europäischer Ebene nicht viel. Zwar läuft seit einem Jahr ein sogenanntes Vertragsverletzungsverfahren, jedoch drehen die Mühlen der Brüsseler Bürokratie so langsam, dass dieses sich noch immer auf der ersten von insgesamt drei Stufen befindet. In Prüfung also, ob Ungarn Menschenrechte missachtet. Und solange die nationalen Regierungschefs sich nicht klar gegenüber Ungarn positionieren, werde sich ohnehin nicht viel ändern, das glaubt zumindest Ska Keller, Sprecherin der Grünen im Europäischen Parlament. "Im Grunde sind doch alle froh, dass keine Flüchtlinge mehr kommen", sagt die EU-Politikerin. Und wie diese dann aufgehalten würden, ob durch Zäune oder Menschenrechtsverletzungen, das interessiere letztendlich keinen. "Klammheimlich finden das doch alle gut."