Die Angst des Westens vor dem Islam - Niedergang eines Feindbildes
Wenn der Chef des CDU-Wirtschaftsflügels Carsten Linnemann ein Buch mit dem Titel "Der politische Islam gehört nicht zu Deutschland" herausgibt, wenn SPD-Mitglied Thilo Sarrazin unter dem Titel "Feindliche Übernahme" den Koran interpretiert und wenn Deutschlands neue Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer, Vorsitzende der CDU, im Rahmen ihrer ersten Orientreise erklärt, warum Tornado-Aufklärungsflugzeuge der Bundeswehr verhindern, dass das Kalifat des "Islamischen Staates" (IS) sein hässliches Haupt aufs Neue erhebt, dann ahnt man: wir sind ganz unten angekommen.
Wir kratzen an den letzten Bröseln eines schon ziemlich fest verklumpten Bodensatzes. Die Rede von der islamischen Gefahr, der islamischen Herausforderung, der islamischen Bedrohung ist ausgeschöpft. 30, 40 Jahre wurde sie im Westen kultiviert. Noch in jüngster Zeit hat die deutsche Politik hunderte Planstellen in Polizei und Geheimdiensten für die Beobachtung und Verfolgung des politischen Islam geschaffen. Aber inzwischen scheint es den Klügeren zu dämmern: der Islam eignet sich nicht (mehr) zum Feindbild.
Dieser Trend hat etwas mit der Realität zu tun. Dem politischen Islam ist, erscheinungsformübergreifend, die innere Glaubwürdigkeit abhanden gekommen.
Das Scheitern des politischen Islam
Das autoritäre Regime des Islamisten Erdoğan wackelt, die Türkei ist heute ein schwächerer Staat als vor zehn, fünfzehn Jahren, als Recep Tayyip Erdoğan "nur" ein demokratisch gewählter Ministerpräsident war und den Islam als Inspirationsquelle für modernes Regieren präsentieren konnte. Die Strahlkraft der Aufbruchszeit ist verblichen.
Die sunnitische Muslimbruderschaft konnte nirgendwo die Macht übernehmen, bis auf das kurze Zwischenspiel von Mohammed Mursi in Ägypten. Dass dieser als Angeklagter in einem Gerichtsprozess in Ohnmacht fiel und starb, hat einige Symbolkraft.
Der Thronfolger des "Hüters der Heiligen Stätten" des Islam, Mohammed bin Salman von Saudi-Arabien, ist ein vor der ganzen Welt bloßgestellter feiger Mörder.
Das Kalifat des "IS" ist untergegangen, von der Landkarte verschwunden. Wer hätte das gedacht? In den Talkshows des Jahres 2015 fiel der Name "IS" nie weniger als ein dutzend Mal. Das klang, aus dem Munde akademischer und nicht-akademischer Experten, nach Dauerhaftigkeit, nach anhaltender Herausforderung. Das Gerede war Asche. Auch verbrecherische Organisationen müssen sich, wenn sie länger Bestand haben wollen, in ihren internen Beziehungen und in den Formen der Provokation gegen die allgemeine gesellschaftliche Norm an bestimmte Regeln halten. Das ist eine antike Erkenntnis, die man auch bei dem jüdisch-arabischen Philosophen Bahya ibn Paquda, der im 11. Jahrhundert in Saragossa lebte, nachlesen kann.
Brüchige Existenz
Im supra-nationalen Untergrund setzen Al-Qaida und der Wettbewerber "IS" ihre Existenz fort, das soll nicht bestritten werden. Aber sie ist brüchig, und das Konkurrenzverhältnis der beiden Gruppierungen, die um die Führerschaft im gewaltbereiten Spektrum des Islamismus streiten, treibt inzwischen skurrile Blüten.
Im Jemen riss sich Al-Qaida ein verunglücktes unveröffentlichtes Propaganda-Video des Konkurrenten unter den Nagel und nutzte es öffentlichkeitswirksam für dessen Bloßstellung. Da sind wir mitten in der Satire, die der britische Film "Four Lions" schon 2010 als geeignete Darstellungsform für die islamische Gefahr präsentierte, also lange bevor das aktuelle Führungspersonal der CDU sich des Themas, in aller Ernsthaftigkeit und ohne jeden schwarzen Humor, angenommen hat.
Es ist natürlich ein intellektuelles Risiko, Erdoğan, die Muslimbruderschaft, Mohammed bin Salman und Al-Qaida in einem Atemzug zu nennen. Es ist das Risiko, das die Warner vor dem politischen Islam gerne eingehen. Daran knüpft sich ja ihre Existenzberechtigung. Will man realistisch sein, muss man sich mit diesem Konstrukt oder - supermodern gesprochen - mit diesem "Frame" auseinandersetzen.
Der französische Wissenschaftler Olivier Roy war vielleicht der erste, der die Tücken dieser Betrachtungsweise und die realen Schwächen des "politischen Islam" erkannt hat. Bereits 1992 veröffentlichte er das Buch "L'échec de l'Islam politique" (Das Scheitern des politischen Islam). Er warnte davor, den modernen Islamismus, gerade auch seine radikalsten Erscheinungsformen, nur aus dem Islam heraus zu erklären. Wer die aktuellen Phänomene vor allem aus Wesen, Geschichte und Kultur des Islam herleite, der laufe Gefahr, etwas zu konstruieren, das einer realistischen und aufgeklärten Gegenwartsdiagnose nicht standhält.
Roy zeigte auf, dass der zeitgenössische Islamismus ein Nebenprodukt der globalisierten Welt, ihres eisernen Fortschrittsglaubens und ihrer Kommunikationsformen ist. Diese Formen und Denkmuster seien so prägend, dass man den Islamismus eher als Spiegelbild der Moderne (oder Postmoderne) denn als Neuedition des klassischen, ursprünglichen Islams begreifen müsse. Wenn man einfach alles glaube, was die Islamisten von sich selbst behaupten, mache man es sich zu leicht. Olivier Roy hat viel Widerspruch erfahren. Mit dem 11. September 2001 schien der Beweis der islamischen Bedrohung und ihrer überragenden Bedeutung erbracht.
Aber was ist seitdem passiert? Kriege wurden geführt, um diese Bedrohung auszumerzen. Eine militärische Intervention in einem islamischen Land folgte der nächsten. Militärtechnische Fortschritte sprangen dabei - dank der immensen Ressourcen, die man in die Sache steckte - sehr wohl heraus, zum Beispiel die Perfektionierung des ferngesteuerten Drohnenkrieges.
Die Klügeren sind sich heute aber einig: ein Fortschritt im Sinne der Lösung eines Problems wurde nicht erzielt. Während ein Teilproblem wie Usama bin Laden "gelöst" wurde, wurden viele neue geschaffen. Wie ist heute die Lage in Afghanistan, wie in Gaza, im Jemen, in Libyen, Mali, in Syrien und im Irak? Es scheint einen Fehler in der Analyse des Grundproblems zu geben. Olivier Roy hatte von Anfang an Recht.
- Teil 1: Die Angst des Westens vor dem Islam
- Teil 2: Islamische Staatenwelt in Auflösung