Verfahren gegen G20-Demonstrant: Aus Mitläufer wird Gewalttäter
"Die Bevölkerung" habe "einen Anspruch" auf Bestrafung der G-20-Täter, betonte Oberstaatsanwalt Michael Elsner am Montag, den 16. Oktober zum Auftakt des Prozesses gegen den 18-jährigen Italiener Fabio V. vor dem Amtsgericht Hamburg-Altona. Die Ankläger werfen dem kapitalismuskritisch eingestellten jungen Mann aus den Dolomiten "schweren Landfriedensbruch", "versuchte schwere Körperverletzung" und "tätliche Angriffe auf Vollstreckungsbeamte" vor.
Wer warf welche Gegenstände?
Fabio war am frühen Morgen des 7. Juli am Rande eines Protestzuges von etwa 200 größtenteils vermummten Demonstranten in einem Industriegebiet im Westen Hamburgs festgenommen worden. Aus der Demonstration heraus, so schreibt die Staatsanwaltschaft in ihrer Anklageschrift, seien mindestens 14 Steine und vier pyrotechnische Gegenstände geworfen worden. Ein Polizeivideo, das die Szene dokumentiert, liegt Panorama vor. Belege dafür, dass der Angeklagte selbst Gegenstände geworfen hat, scheint es nicht zu geben. Die Staatsanwaltschaft legt es ihm jedenfalls in der Anklage nicht zur Last. Die Vorwürfe gegen den jungen Italiener stützen sich im Kern darauf, dass er Teil jenes Protestzuges gewesen sein soll.
Fragwürdige Berichterstattung
Die "Bevölkerung", die laut Oberstaatsanwalt "einen Anspruch" auf die Bestrafung von Fabio und den anderen G-20-Tätern habe, könnte von dem Angeklagten allerdings einen weitaus negativeren Eindruck bekommen, wenn sie das "Hamburger Abendblatt" liest. Dort heißt es am 17.10.: "Fabio V. soll laut Anklage 14 Steine und vier pyrotechnische Gegenstände geworfen haben...". Dabei teilte die Staatsanwaltschaft mit, aus der Demonstration seien insgesamt "mindestens 14 Steine und vier pyrotechnische Gegenstände" geworfen worden.
Auf Anfrage wollte sich das "Abendblatt" zu der Falschdarstellung nicht äußern. Die Zeitung teilte lediglich mit, man wolle in der Ausgabe vom 18.10. eine Richtigstellung veröffentlichen. Ein absichtlicher Fehler ist tatsächlich unwahrscheinlich, aber dass der Fehler niemandem auffiel, passt schon etwas in die Zeit. Wie gesagt: Nicht einmal die Staatsanwaltschaft wirft Fabio vor, eigenhändig Gegenstände geworfen zu haben - und dann gleich mindestens 18!
Ein vielarmiges Wesen?
Angesichts der kurzen Zeit, die zwischen der Einkesselung der Demo und dem Sturm der Polizei verging, laut Polizeivideo waren es 39 Sekunden, hätte selbst ein vielarmiges Wesen seine Mühe gehabt, 18 Gegenstände zu werfen und an vier davon noch Feuer zu legen. Der Diskurs um die G-20-Täter scheint in Hamburg so weit von jeglicher Rationalität abgedriftet zu sein, dass man ganz grundsätzliche Dinge in Erinnerung rufen muss: Fabio V. ist keine Krake, sondern ein Mensch.
Dass der junge Italiener normale menschliche Empfindungen hat, daran hatte das Hanseatische Oberlandesgericht bereits gezweifelt, als es die Untersuchungshaft begründete. Der Beschuldigte trage nämlich "schädliche Neigungen" und eine "tiefsitzende Gewaltbereitschaft" in sich. Grundlegende Prinzipien unserer Werteordnung wie "die Menschenwürde" seien für ihn "erkennbar ohne jede Bedeutung".
Es mag schwer fallen, es zu glauben, aber wer genau hinsieht, wird in Hamburg derzeit Zeuge der Entmenschlichung eines Angeklagten. In Deutschland, und gerade auch in der Hamburgischen Justiz, müsste man dieses Phänomen aus der Geschichte kennen. Träfe die Behauptung zu, dass man aus der Geschichte gelernt habe, müsste es jetzt gerade auch "in der Bevölkerung" mehr Empörung geben.
Vorverurteilung im Haftbeschluss
Der angesehene Bundesrichter a.D. Thomas Fischer jedenfalls erkannte in dem Haftbeschluss gegen Fabio eine unzulässige Vorverurteilung. "Der Haftbeschluss des OLG liest sich wie eine vorweggenommene überzogene Strafzumessung," erklärte Prof. Fischer, der auch einen maßgeblichen Kommentar zum Strafrecht verfasst hat, gegenüber Panorama. Auch der emeritierte Hamburger Juraprofessor Ulrich Karpen sah in dem Haftbeschluss kein Glanzstück rechtsstaatlicher Strafverfolgung. "Ein Jeder" dürfe nur für die von ihm begangenen Taten zur Rechenschaft gezogen werden, betonte Karpen. Es sei in unserer Rechtsordnung verboten, für "einen Gesamteindruck", etwa dass beim G20 in Hamburg "bürgerkriegsähnliche Zustände geherrscht haben könnten", einer einzelnen Person die Schuld aufzubürden.
Rechtsstaat muss ohne Sündenbock auskommen
Im Rechtsstaat ist der Sündenbock nämlich nicht vorgesehen. Das OLG erklärte gegenüber Panorama, dass die in dem Haftbeschluss abgegebene Einschätzung zu Fabios Persönlichkeit naturgemäß "vorläufig" sei. Vorläufig hin oder her: Der Haftbeschluss hat Bestand. Fabio sitzt seit mehr als drei Monaten in Untersuchungshaft. Eine erneute mündliche Haftprüfung führte nicht zur Freilassung des Angeklagten. Die Hamburgische Justiz begründet dies mit der Fluchtgefahr, für die die absehbar empfindliche Freiheitsstrafe einen Anreiz darstelle.
Befangenheitsantrag abgelehnt
Zum Prozessauftakt stellte Fabios Verteidigerin einen Befangenheitsantrag gegen die Richterin. Der Angeklagte lehne die Richterin ab, weil diese die Gründe für die Untersuchungshaft "zu oberflächlich" geprüft habe. Insbesondere habe die Richterin weiteres Bildmaterial von der Demonstration, das der Akte inzwischen beigefügt worden sei und das Ihren Mandanten zusätzlich entlaste, nicht gewürdigt.
Das Amtsgericht Altona wies den Antrag mit Beschluss vom 17.10.2017 zurück. Das Gericht begründete seine Ablehnung damit, dass Erlass und Begründung des Haftfortdauerbeschlusses durch die Richterin Zweifel an deren Unvoreingenommenheit nicht zuließen. Es entspreche der Natur der Sache, dass die Entscheidung über die Haftfortdauer nur vorläufigen Charakter habe.