Stand: 25.02.2016 21:45 Uhr

Sachsen und der Hass: die feinen Unterschiede

von Andrej Reisin

Im letzten Jahr bewarb sich ein Freund mit "asiatischem" Migrationshintergrund um einen Job in Leipzig. Er wurde binnen eines halben Tages, den er zum Vorstellungsgespräch dort verbrachte, drei Mal von wildfremden Menschen in der Öffentlichkeit als "Schlitzi" und "Fidschi" beschimpft. In Leipzig. Drei Mal. An einem halben Tag. Konsterniert berichtete er, so etwas sei ihm in Hamburg seit 20 Jahren nicht passiert. Bereits vor zehn Jahren berichtete eine indische Freundin, wie ihre Dresdener Studenten-WG ihr schamvoll und verdruckst erklärte, warum es keine gute Idee sei, wenn sie im Sommer mit an den Badesee außerhalb der Stadt komme. Es gibt Hamburger Schulen, die wegen rassistischer Erfahrungen keine Klassenfahrten mehr in den Osten unternehmen.

VIDEO: Clausnitz: Wer hat hier berechtigte Sorgen? (1 Min)

Wer also wissen will, ob Sachsen fremdenfeindlicher ist als Schleswig-Holstein, der frage einen nicht "deutsch" aussehenden Menschen seiner Wahl, ob dieser sich in Kiel oder in Chemnitz in seiner Haut wohler fühlt. Nach meiner Erfahrung sind die Antworten und Erfahrungen so eindeutig, dass es eigentlich kaum zwei Meinungen gibt. Oder glaubt irgendwer ernsthaft, die RBB-Reportage "Allein unter Weißen" hätte man so auch in Nordrhein-Westfalen drehen können?

Pauschalurteile über Sachsen?

Doch nach fünf Tagen Empörung über Clausnitz wird nun wieder allenthalben davor gewarnt, man dürfe jetzt bloß nicht pauschalisieren, alle Sachsen in einen Topf werfen, im Osten gäbe es nicht nur Rassisten und so weiter. Einige ziehen dafür sogar einen Vergleich mit rassistischen Vorurteilen: Der Satz "Die Bewohner Sachsens sind fremdenfeindlicher als andere" würde genauso wenig stimmen wie die Behauptung "Ausländer sind krimineller als Deutsche".

Abgesehen davon, dass die eine Behauptung sich auf Zahlen und Fakten stützen kann, die andere hingegen nicht, liegt darin ein kategorialer Fehler. Denn Sachsen oder Ostdeutsche sind keine diskriminierte Gruppe. Natürlich gibt es "Wessis", die pauschal alle "Ossis" nicht leiden können, doch diesbezüglich stehen sich beide Gruppen in nichts nach. Aber bekommt irgendwer aufgrund des eigenen Sächsischseins oder Ostdeutschseins keine Wohnung? Oder wird von Polizei und Behörden diskriminiert? Nein? Dann lassen Sie uns das Thema wechseln.

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Warum Tabus den Opfern durchaus nützen

Es gibt auch diejenigen, die meinen, es nütze doch nichts, den Grölern von Clausnitz zu sagen, sie seien "strunzdumm" oder "Nazis". In den Köpfen würde sich dadurch nichts ändern. Das mag sein. Es wäre allerdings auch schon viel gewonnen, außerhalb der Köpfe würde sich etwas ändern. Für die Opfer rechtsradikaler Gewalt nämlich ist es ein fundamentaler Unterschied, ob jemand in seinem Kopf "Nazi" ist oder rassistische Gedanken denkt - oder ob er sich traut, auf der Straße rumzupöblen und rumzuprügeln. Und letzteres kann durchaus verhindert werden, wenn die Täter darauf verzichten müssen, weil sie sowohl Strafverfolgung als auch gesellschaftliche Ächtung befürchten müssen. Die umgekehrte Erfahrung wurde im Übrigen bereits gemacht. Die "akzeptierende Jugendarbeit" der 90er Jahre führte zunächst dazu, dass rechtsradikale Jugendliche sich Freizeiteinrichtungen schnappten, dann ihre Gegner vertrieben und schließlich feste Neonazi-Strukturen bildeten. Am Ende stand der NSU.

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Dies gilt im Übrigen auch grundsätzlich: Würde gesellschaftliche Ächtung dazu führen, dass sich Menschen dann erst Recht einem tabuisierten Gegenstand zuwenden, müsste es vor Pädophilen und Tierquälern nur so wimmeln. Das Gegenteil ist der Fall. Tabus haben durchaus einen Sinn und eine Wirkung. Bestes Beispiel ist der Antisemitismus, der seit 1945 in Deutschland gesellschaftlich weitgehend geächtet ist. In der Folge sind antisemitische Straftaten heute bei uns weit weniger häufig als in anderen europäischen Ländern. Ob es Millionen Antisemiten im stillen Kämmerlein gibt, ist für Juden in ihrem Alltag erstmal ziemlich egal, so lange dieser Hass nicht offen artikuliert werden kann. Gleiches gilt für die Opfer rassistischer Gewalt. Wer sagt, mit der Beschämung und Ächtung der Täter erreiche man nichts, verkennt daher die Opferperspektive vollkommen.

Vom "Sachsenstolz" zur beleidigten Leberwurst

Wer dagegen Sachsen im Namen derjenigen verteidigt, die sich dort gegen Fremdenfeindlichkeit stellen, irrt gewaltig. Gerade diejenigen, die sich vor Ort engagieren, klagen seit Jahren am Lautesten über das, was man "Sächsische Demokratie" nennt. Bestes Beispiel ist die Rede des sächsischen Abgeordneten der Linkspartei, Michael Leutert:

Oder Andrea Hübler von der sächsischen Beratungsstelle für Opfer rechter Gewalt: Sie spricht vom "alltäglichen Wahnsinn in Sachsen", dem "zu wenig entgegengesetzt" werde. Offenbar gibt es nämlich kein Problem mit der Zuschreibung "Sachsen" oder "sächsisch", wenn sie positiv konnotiert ist: Gerne spricht man im Freistaat von "Sachsenstolz" oder dem "sächsischen" Lebensgefühl, das "mehr als eine Sprache" sei.

Wenn man sich Perlen wie das Lied "Sachsen immer lacht" anschaut, könnte man sogar auf die Idee kommen, diese Art des Abfeierns vollkommen unkritischer Heimatliebe habe möglicherweise etwas mit der typisch sächsischen Ignoranz gegenüber Rechtsradikalismus und Fremdenhass zu tun, über die der Linken-Politiker Leutert, aber auch andere sächsische Stimmen sprechen: "Ich erinnere mich, wie der Vater einer Freundin auf offener Straße vorm Bierzelt des jährlichen Dorffests brüllt: 'SIEG…!!!'. Als wäre es gestern gewesen. Ich erinnere mich, wie in einer der umliegenden Kleinstädte der Türsteher eines Clubs mit Springerstiefeln, ThorSteinar-Jacke und Glatze einem Gast mit Rastalocken den Kiefer ausschlägt. Ich erinnere mich an judenfeindliche Sprüche", schreibt ein Clausnitzer. Entsprechend bitterböse fallen auf YouTube die Video-Parodien des erwähnten Heimat-Hits aus:

"Aber im Westen gibt es auch..."

Wer gegen diesen "sächsischen Wahnsinn" etwas unternehmen will, wird mit dem Verweis auf "aber im Westen gibt es auch ..:" nicht weiterkommen. Denn diese Verschleierung der sächsischen Zustände hat seit 25 Jahren nichts bewirkt. Jetzt kommt es darauf an, endlich einmal das Problem in Sachsen und in anderen Teilen des Ostens offen anzusprechen, zu analysieren und Lösungsstrategien jenseits von Lippenbekenntnissen zu erarbeiten.

Lokale Behörden müssen daran erinnert (und gegebenenfalls auch sanktioniert) werden, wenn an manchen Orten vom Jugendamt bis zur Polizei unklar zu sein scheint, welchen Staat und welche Demokratie sie zu schützen haben. Außerdem muss endlich auf diejenigen gehört werden, die sich vor Ort gegen Hass und Fremdenfeindlichkeit stark machen - statt ihnen permanent Knüppel zwischen die Beine zu werfen. Bereits in Schulen und Jugendklubs müssen Minderheitenschutz und Anti-Diskriminierungs-Arbeit flächendeckend angeboten und durchgesetzt werden. Demokratische Kultur und Zivilgesellschaft lassen sich aufbauen und verteidigen, Vorbilder gibt es an unzähligen Orten der Republik (auch im Osten!) zur Genüge.

Ja: Im Westen gibt es auch... Aber nicht so viel, nicht so systematisch und nicht so staatlich toleriert. Es ist kein Zufall, dass die NSU-Terroristen aus Thüringen kamen und ein gutes Jahrzehnt im sächsischen Zwickau unbehelligt leben, Banken überfallen und vor sich hin morden konnten. Es ist kein Zufall, dass Pegida im Westen in keiner Stadt einen Fuß auf den Boden bekommt. Und genauso wenig sind Heidenau, Freiberg, Tröglitz, Luzenau, Meißen, Freital, Bautzen und Clausnitz Zufälle. Was wiederum natürlich nicht heißt, dass ALLE Sachsen Rassisten etc. sind. Aber man darf wegen der Pauschalisierungsgefahr nicht derartige regionale Auffälligkeiten und Häufungen unterschlagen.

tl;dr
Stimmen, die davor warnen, man dürfe nicht alle Sachsen als fremdenfeindlich bezeichnen, finden sich seit Jahren genug. Stimmen, die die sächsischen Zustände systematisch analysieren und die politischen Konsequenzen daraus ziehen, finden sich dagegen seit Jahren zu wenig. Ansonsten wäre das Problem nämlich längst gelöst.

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