Stand: 23.07.2018 18:51 Uhr

Mesut Özil: Deutscher auf Bewährung

von Andrej Reisin

"Mit Sombrero auf und Doc Martens an, so geht die Reise los,
nach Mexiko auch ohne Geld, wenn’s sein muss mit 'nem Floß ...
Señoritas im Arm, Tequila lauwarm -
von Durchfall geplagt - und von Fliegen gejagt.
Im Land der Kakteen werden wir - du wirst seh'n -
wieder Weltmeister, Weltmeister sein!"
Böhse Onkelz - "Mexico" (1985)

Porträtbild des deutschen Fußball-Nationalspielers Mesut Özil. © dpa picture alliance Foto: Markus Ulmer
Will nicht mehr für Deutschland spielen: Mesut Özil.

So etwa klingt es in Fußballstadien, wenn die deutsche Nationalmannschaft vor heimischem Publikum - oder vor genug Auswärtsfans - aufläuft. "Mexiko" von den Onkelz - eine Hymne irgendwo zwischen Klassenausflug zum Ballermann und Männerbund-Klischees mit nationalem Anstrich. Bis heute wird der Song sowohl von eher rechtsgerichteten Hools als auch von ganz normalen Fans intoniert. Vorab: Ich habe nichts dagegen, ich kann das Lied auswendig - und ich glaube, es gibt weitaus schlimmere Dinge, die man in Stadien singen kann.

Aber wenn ernsthaft darüber diskutiert wird, ob die gellenden Pfiffe gegen Ilkay Gündogan und Mesut Özil von eben jenen Tribünen Ausdruck einer zutiefst demokratisch motivierten Kritik am Posieren mit Diktatoren waren - oder vielleicht doch ein ganz klitzekleines bisschen rassistisch motiviert - sollte man sich vielleicht nochmal an die Realität auf den Rängen und drum herum erinnern. Hier am Beispiel der Europameisterschaft in Frankreich vor zwei Jahren in Lille:

Die Sprengkraft heißt Rassismus

Nein, es kann keine ernsthaften Zweifel daran geben, dass die Fan-"Kritik" an Özil & Co. in ihrer Heftigkeit zu weiten Teilen von einer rassistischen Motivation getragen wurde. Kaum jemand interessiert sich bei Länderspielen ansonsten groß für Politik - und wenn doch, dann fällt man eher unangenehm auf. So zuletzt im September 2017 beim Länderspiel in Prag, als rund 200 rechte Hools und Nazis mit "Sieg Heil"-Gegröle und anderen rechtsradikalen Parolen auf sich aufmerksam machten. Regelmäßig entschuldigt sich der Deutsche Fußball-Bund (DFB) dann - und verspricht, man werde alles tun, um die Täter zu ermitteln und in Zukunft aus dem Stadion zu halten.

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Eindeutige Botschaft: Dieser Deutschland-Fan auf dem Marktplatz vom Lemberg (Lviv) in der Ukraine trägt die Rückennummer "88" - ein Neonazi-Code für "Heil Hitler". Auf den Schultern prangt außerdem das Eiserne Kreuz - ein weiterer beliebter Code bei Rechtsextremen, um das in Deutschland verbotene Hakenkreuz zu umgehen. © Florian Schubert Foto: Florian Schubert

EM: Rassismus und Hetze gegen Özil

Einige deutsche Fans machen offenbar negativ auf sich aufmerksam: Über einen Twitter-Account wurde gegen Mesut Özil gehetzt, in Lemberg sollen Neonazis im Stadion gewesen sein (Meldung von 2012). mehr

Die Doppelmoral der Funktionäre

Ob der "Ehrenspielführer" Lothar Matthäus Putin lobend die Hand schüttelt oder Julian Draxler einen Dankesbrief an Russland schreibt, ob Franz Beckenbauer verlauten lässt, er habe in Katar keine Arbeitssklaven gesehen oder der DFB und diverse deutsche Proficlubs auf Werbetournee in China gehen: Diktatoren? Menschenrechte? Ich bitte Sie, was soll der Fußball denn da machen?

Dass Putin (momentan wieder) einer der Verbündeten Erdogans im Syrien-Konflikt ist, dass die EU mit eben jenem Erdogan einen schmutzigen Flüchtlings-Deal hat, dass die deutsche Waffenindustrie mit dem Segen der Bundesregierung Panzer und anderes Kriegsgerät an den NATO-Partner Türkei liefert - alles geschenkt. Aber wehe, ein Fußballer mit türkischem Migrationshintergrund posiert mit Erdogan - dann ist er geliefert.

Für welche Werte steht der DFB denn?

Es ist ein erbärmliches Trauerspiel, das der DFB und seine Spitzenfunktionäre Grindel und Bierhoff abgaben, als sie erst in autorisierten (also gegengelesenen) Interviews den Eindruck erweckten, die Schuld am WM-Aus auf Özil abzuwälzen, um sich dann den Vorwurf des Rassismus‘ zu verbitten. Gestern hat Mesut Özil zurückgeschossen - ohne eigene Fehler einzugestehen.

In der heutigen Antwort des DFB wird zwar angeblich "selbstkritisch" eingeräumt, dass man "auch einen Beitrag geleistet habe" (wozu oder womit wird nicht gesagt), doch offenbar sitzt die hauseigene Doppelmoral so tief, dass man sie noch nicht einmal bemerkt:

 

"Was uns alle dabei auf und neben dem Platz verbinden muss, ist die Beachtung der im Grundgesetz verankerten Menschenrechte, das Eintreten für Meinungs- und Pressefreiheit sowie Respekt, Toleranz und Fair Play. Ein Bekenntnis zu diesen Grundwerten ist für jede Spielerin und für jeden Spieler erforderlich, die für Deutschland Fußball spielen." DFB-Statement

Wird der DFB die nächste WM absagen?

Man darf also wohl davon ausgehen, dass "Loddar" gegenüber Putin den Wert der Pressefreiheit betont hat, dass Reinhard Grindel Erdogan ins Gewissen redet - und Jogi Löw Katar noch einmal dringend an Arbeitnehmerrechte erinnert. Ansonsten wird Deutschland die nächste WM wohl sausen lassen. Allein: Nichts davon ist bekanntlich passiert - oder wird passieren. Wie diese Schmierenkomödie bei Deutschtürken und überhaupt allen Nicht-"Biodeutschen" (ein besseres Wort fehlt in diesem Zusammenhang leider) ankommt, kann man sich lebhaft vorstellen.

Wer bestimmt die Identität?

Der aus Südafrika stammende Moderator der amerikanischen "Daily Show", Trevor Noah, brachte eine solche Empfindung kürzlich auf den Punkt: Noah war vom französischen Botschafter in den USA kritisiert worden, weil er in seiner Sendung den Witz gemacht hatte, Afrika habe die WM gewonnen. Der Botschafter verwies empört darauf, dass die schwarzen Spieler Frankreichs selbstredend Franzosen - und nur Franzosen - seien. Noahs Antwort: Warum können sie nicht beides sein?

"Afrikaner lässt Baby fallen!"

Er erinnerte zudem daran, dass kürzlich einem Einwanderer aus Mali die französische Staatsbürgerschaft verliehen worden ist, nachdem dieser die Fassade eines Pariser Wohnhauses hochgeklettert war, um ein Baby vor dem Abstürzen zu retten. Noahs Frage: "Ist der Mann jetzt kein Afrikaner mehr?" Und vor allem: Wäre die Rettung gescheitert, hätte die Schlagzeile dann gelautet: "Afrikaner lässt Baby fallen!" ...?

"Deutscher - wenn wir gewinnen"

Angela Merkel und Mesut Özil © dpa Foto: Guido Bergmann
Auch Angela Merkel ließ sich gerne mit dem Gewinner Özil ablichten.

Das Beispiel illustriert die Einteilung in guter Ausländer/schlechter Ausländer brillant. Die türkische Putzfrau, die mit Kopftuch unsere öffentlichen Toiletten putzt? Kein Problem. Die Muslima, die mit Kopftuch im Staatsdienst arbeiten will? Integrationsverweigerin! Mesut Özil formulierte dasselbe Gefühl - das Generationen von "Gastarbeitern" verbindet - so: "Ich bin Deutscher, wenn wir gewinnen, aber ein Migrant, wenn wir verlieren."

Özil wird zum Stellvertreter

Ja, auch unter Menschen mit türkischem Migrationshintergrund in Deutschland gibt es höchst unterschiedliche Haltungen zu Erdogan. Ja, man kann Özil seinen Umgang mit einem Staatschef, der Rechtsstaat, Pressefreiheit und Menschenrechte mit Füßen tritt, durchaus vorhalten.

Aber niemand sollte sich der Illusion hingeben, Özils Enttäuschung, Wut und Verletzung würden nicht von Millionen Menschen in Deutschland nachvollzogen, die genau wissen, wie es sich anfühlt, wenn man im Zweifelsfall darauf reduziert wird, der "Kanake" zu sein. Heute scheint diese Wunde mit jedem offiziellen Statement tiefer geschlagen zu werden. So meint Bundesaußenminister Heiko Maaß (SPD) zum Beispiel:

"Ich glaube auch nicht, dass der Fall eines in England lebenden und arbeitenden Multimillionärs Auskunft gibt über die Integrationsfähigkeit in Deutschland." Heiko Maas

Da irrt er sich leider - und zwar gewaltig. So lange es in Deutschland keine Einsicht und keinen ehrlichen Umgang damit gibt, wie tiefgreifend der alte und neu erstarkte Rassismus die Gesellschaft spaltet, wird sich daran nichts ändern.

 

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