Meinungsfrei und scheinheilig
Die Demonstrationsverbote in Hanau und Berlin zeigen: Die sehr unterschiedliche Diskussion um Meinungsfreiheit ist schrecklich scheinheilig, meint Annette Kammerer.
Dieses Wochenende wollten sie so richtig ran. Die Corona-Gegner. Es mit ihrer angeblich Millionen-Menschen-Demonstration bis zum Regierungsviertel schaffen, und nicht, wie schon Anfang August, nach kurzer Zeit an der roten Karte der Polizei scheitern, weil kaum einer Maske trug. Doch den zweiten Anlauf verbot der Berliner Innensenator gleich ganz. Hat die rote Karte gezeigt, bevor es überhaupt zum Spiel kommen konnte.
Jetzt schreit einer lauter als die andere: Meinungsfreiheit! Versammlungsfreiheit! Grundgesetz! Doch das ist schrecklich scheinheilig.
Um Hanau blieb es still
Denn auch letztes Wochenende wurde eine Großdemonstration abgesagt. Die in Hanau, als bis zu 5.000 Menschen den Opfern des rassistischen Angriffes vor einem halben Jahr gedenken wollten. Still und ruhig, mit Abstand und Maske. Eine Gedenkveranstaltung eben, bei der die Anwesenden besseres zu tun gehabt hätten, als sich gegen die angebliche "Corona-Diktatur" zu wehren.
Wer rief da Meinungsfreiheit, wer Versammlungsfreiheit und wer verlas das Grundgesetz? Die Bild-Zeitung war’s schon mal nicht. Die nahm Hanau nachrichtlich zur Kenntnis, während sie das Demonstrationsverbot in Berlin später prompt zu einem "inakzeptablen Angriff auf unsere Grundrechte" machte. Es folgte eine Empörung in den Sozialen Medien und Primetime für sogenannte Rechts-Experten.
Um Hanau aber blieb es still. Kein Sturm der Entrüstung, keine Debatten über Meinungsfreiheit und Demokratie. Warum also rezitieren erst jetzt alle lammfromm aus dem Grundgesetz?
Berliner Innensenator: Ja was denn nun?
Es drängt sich der Eindruck auf: Wehe, einer missachtet die Meinung des guten, alten Stammtisches! Schnürt den zu recht besorgten Bürgern das Mundwerk mit Maske zu! Eine These, die, unglücklicher könnte es kaum sein, dann auch noch Steilvorlage von Berlins Innensenator höchstpersönlich bekommt. Der behauptete zunächst zwar, das Verbot sei keine Entscheidung gegen die Versammlungsfreiheit, sondern eine für den Infektionsschutz. Einen Absatz später warnte dann aber eben dieser Innensenator forsch, dass Berlin nicht wieder "als Bühne für Corona-Leugner, Reichsbürger und Rechtsextremisten missbraucht" werden dürfe. Jetzt fügt er noch hinzu, dass es dieses Mal ja auch noch eine "ganz erhebliche Androhung an Gewalt gebe". Ja was denn nun? Denkt man sich und sieht den gefährlichen Nährboden, der die verkappte Kommunikation bereitet und eine scheinheilige, zweckentfremdete Meinung, zu einer gesamtgesellschaftlichen Diskussion wachsen lässt.
Vielleicht sollten es die Corona-Gegner diesen Samstag einfach genau so machen, wie die Menschen in Hanau vergangene Woche. Dort wurde den Opfern des Angriffes nämlich trotz Corona gedacht. Nur eben nicht im Großdemo-Format, sondern mit Live-Stream und genau 249 Anwesenden.
Meinungsfrei wären die wohl maskenlosen Demonstranten ja dann. Und versammelt auch. Nur, dass unsere Debatte darum dann nicht mehr ganz so scheinheilig wäre.