Genug abgeschreckt
Nun ist es also beschlossen: Die NATO verlegt erstmals in ihrer Geschichte Tausende Soldaten an die Grenze zu Russland. Die Stationierung von je einem Bataillon in Polen und in den drei baltischen Staaten nennt Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen umständlich "verstärkte Vorne-Präsenz" - wohl, um es bloß nicht zu martialisch klingen zu lassen. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg wurde da beim Warschauer Gipfel deutlicher: Es gehe um Abschreckung, um die Abschreckung Russlands, um ein klares Signal der Stärke. Es sei die "Reaktion auf das, was Russland in der Ukraine gemacht hat", die Reaktion auf die russischen Truppenverlegungen, auf die unangekündigten Manöver.
Symbolpolitik ist kein Zeichen von Stärke
Abschreckung? Stärke? Nein. Es ist allenfalls eine Beruhigungspille für die verunsicherten Bündnispartner. Symbolpolitik, das ist allen Beteiligten sehr wohl klar, dem Westen und auch den Russen. Denn Abschreckung funktioniert nur, wenn man den Abzuschreckenden im Zweifel auch besiegen könnte. Sollte Russland ernst machen, in Estland, in Litauen, in Lettland - die NATO-Truppen hätten keine Chance. Daran ändert auch die sogenannte "Speerspitze" nichts, die schnelle Eingreiftruppe der NATO, die weiter ausgebaut werden soll. "Die schnelle Eingreiftruppe würde immer zu spät kommen", sagt Ex-NATO-General Harald Kujat. "Sie würde sogar noch zur russischen Siegesparade zu spät kommen."
Klar ist aber auch: So weit wird es wohl nie kommen. Trotz aller russischen Nadelstiche, trotz aller Kassandra-Rufe aus Osteuropa. Putin wird einen Teufel tun und sich durch einen solchen Schritt mit der kompletten NATO anlegen, einen Krieg riskieren. Egal, ob da jetzt westliche Truppen im Weg stehen oder nicht. Darüber sind sich alle seriösen Experten einig. Nein, einen neuen Kalten Krieg wolle man nicht, betonte Stoltenberg in Warschau. Aber die zweite Säule der Russland-Strategie, der "konstruktive Dialog", wird durch die Gipfel-Beschlüsse nun weitaus schwieriger.
"Sicherheit und Entspannung"
In NATO-Kreisen wird in diesen Tagen gerne auf den "Harmel-Bericht" verwiesen, in dessen Tradition man agiere. Vor fast 50 Jahren, 1967, hatte der belgische Außenminister Pierre Harmel ein kluges zweigleisiges Konzept für die NATO entworfen, das die Grundlage für eine Phase der friedlichen Koexistenz, der Annährung und schließlich für das Ende des Kalten Krieges legte. Es bestand aus den beiden Komponenten "Sicherheit und Entspannung". Harmel benannte sie bewusst so. "Sicherheit und Entspannung" - hört sich irgendwie etwas anders an als "Abschreckung und Dialog". Es sind sogar entscheidende Unterschiede. Sicherheit ist ein statischer Begriff, da geht es um Sicherheitsgarantien, Abschreckung ein dynamischer Begriff. Abschreckung richtet sich immer gegen jemanden. Und: Beim Begriff "Entspannung" ist das Signal klar. Der Begriff "Dialog" muss erst mit Inhalt gefüllt werden. Umso wichtiger ist es, dass die NATO genau dies nun so schnell wie möglich tut. Die Allianz muss ihren Willen zur Entspannung deutlich machen und eine klaren Weg für den Dialog mit Moskau vorgeben. Das ist entscheidend für die Lösung der Krise.
Es ist Zeit für Dialoge
Im Moment gewinnt man den Eindruck, dass die beiden Kontrahenten nicht wirklich wissen, was der jeweils andere eigentlich will. Um das herauszufinden, ist das auf Initiative Deutschlands geplante erneute Treffen des NATO-Russland-Rates auf Botschafter-Ebene ein erster Schritt. Der nächste Schritt muss aber sein, dass in diesem Rahmen auch die Außenminister und die Staats- und Regierungschefs tagen. Die baltischen Staaten sichert man, indem man mit Russland redet. Das wäre ein wirklich gutes Signal.
Über das Thema berichtete Panorama am 23.06.2016