Marita Koch - Zu schnell, um wahr zu sein?
47,60 Sekunden über 400 m. Ein Weltrekord für die Ewigkeit, so fabelhaft wie umstritten. Die Rostockerin Marita Koch hat ihn 1985 aufgestellt - der Höhepunkt ihrer Läuferkarriere.
"Ich wollte einfach nicht lügen." Gesine Tettenborn sagte dies dem "Spiegel" im Januar 2010. Unter ihrem Mädchennamen Gesine Walther gehörte sie zur 4x400-m-Goldstaffel bei den Leichtathletik-Weltmeisterschaften 1983 in Helsinki und zur 4x400-m-Weltrekordstaffel der DDR, deren am 3. Juni 1984 in Erfurt erzielten 3:15,92 Minuten noch heute die Rekordliste des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV) zieren.
Tettenborn hat sich vom Verband aus dieser Liste streichen lassen - wie zuvor schon Sprinterin Ines Geipel über 4x100 m. Beide wollten damit einen öffentlichen Schlussstrich unter ihre Doping-Vergangenheit ziehen. "Doping im DDR-Sport war vorsätzliche Körperverletzung, es war kriminell. Behalte ich diesen Rekord, bin ich für immer an diese Kriminalität gebunden und auch beteiligt", argumentierte Geipel im Frühjahr 2006.
Erfolgreichste WM-Teilnehmerin 1983
Zu der genannten Viertelmeiler-Staffel der DDR gehört auch Marita Koch. Die Rostocker 400-m-Legende war bei den ersten Leichtathletik-Weltmeisterschaften 1983, zugleich ihrer einzigen WM, mit dreimal Gold über 200, 4x100 und 4x400 m sowie Silber über 100 m die erfolgreichste Teilnehmerin. Koch hatte über die Viertelmeile seinerzeit schon siebenmal den Weltrekord verbessert und bei den Boykott-Spielen von Moskau 1980, ihrer einzigen Olympia-Teilnahme, mit über einer halben Sekunde Vorsprung Gold gewonnen.
"Ein optimales Rennen" in Canberra
Fünf Jahre danach krönte die am 18. Februar 1957 in Wismar geborene Langsprint-Virtuosin, mit 21,71 Sekunden auch Weltrekord-Vorgängerin der exzentrischen US-Sprinterin Florence ("Flo-Jo") Griffith-Joyner über die halbe Stadionrunde, ihre überaus erfolgreiche Karriere mit einem Fabel-Weltrekord über 400 m. Beim Weltcup am 6. Oktober 1985 im australischen Canberra rannte Koch - damals 28-jährig - zu schier unglaublichen 47,60 Sekunden. "Es war ein optimales Rennen, ich schöpfte alle Möglichkeiten aus", so Koch damals zur "SZ".
Weltrekord für die Ewigkeit
Und ein Rekord anscheinend für die Ewigkeit. Selbst die von Kochs Ehemann Wolfgang Meier später gecoachte 400-m-Olympiasiegerin Marie-José Pérec aus Frankreich war bei ihrem Gold-Lauf von Atlanta 1996 65 Hundertstelsekunden langsamer als die 16-fache Weltrekordlerin elf Jahre zuvor. In die Nähe von Kochs Rekord ist niemand gekommen. Überhaupt sind nur zwölf Frauen über die 400 m jemals unter 49 Sekunden geblieben - Koch schaffte es gleich 15 Mal. "Ich hatte gedacht, dass damals alles okay war", reagierte sie auf das Dopinggeständnis Tettenborns im "Spiegel".
Stolz auf die Leistung
Die Dimension ihrer Rekordzeit habe sie damals gar nicht richtig wahrgenommen, sagte die Weltrekordlerin 2001 im ARD-Interview. Sie sei stolz auf diese Leistung, die nach ihrer Einschätzung vorläufig kaum getilgt werden dürfte. Wie sie zustande gekommen war, erläuterte Koch nicht, die in der "ewigen" Weltbestenliste über 400 m fünf der zehn schnellsten Zeiten gelaufen ist.
Auch nicht angesichts des belastenden Materials, das die ehemalige Diskuswerferin Brigitte Berendonk gemeinsam mit ihrem Mann, dem Heidelberger Molekular-Biologen Professor Werner Franke, 1991 in ihrem Buch "Doping-Dokumente" veröffentlicht hat.
"Ich war immer clean"
Demnach ist Marita Koch in den Jahren 1981 bis 1984 mit Jahresdosen zwischen 530 und 1.460 Milligramm des anabolen Steroides Oral-Turinabol versorgt worden. "In Helsinki musste ich dreimal zur Dopingprobe und war immer clean. Das gilt für meine Karriere überhaupt, denn ich war - erst recht als Medizinstudentin - eine sehr mündige Athletin", sagte sie anlässlich des 20. Jahrestages ihres Weltrekords der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung".
Auch in Australien habe sie mindestens zweimal zur Dopingkontrolle gemusst und es sei nichts festgestellt worden: "Ich glaube nicht, dass die Nachweismethoden damals so wesentlich schlechter waren als sie es heute sind." Trainingskontrollen allerdings wurden erst Ende der 1980er-Jahre eingeführt.
Böse Kritik für Aufnahme in die "Hall of Fame"
Gerichtliche Schritte unternahm sie gegen die Anschuldigungen nie: "Die wenigsten haben sich getraut, sich mit Anwälten gegen wirklich ungerechtfertigte Sachen zu wehren, sondern man hat es erduldet. Aber irgendwann hat man sich auch daran gewöhnt und gelernt, damit zu leben", sagte sie. Heftig kritisiert wurde auch, als sie 2014 in die "Hall of Fame" einzog. In die Ruhmeshalle der Leichtathletik wurde Koch wie Weitspringerin Heike Drechsler auf Vorschlag des Weltverbandes aufgenommen.
Drittes EM-Double zum Abschluss
Tatsächlich markierte das sensationelle Rennen von Canberra den Scheitelpunkt in Kochs Karriere. Aufkommenden Gerüchten, sie wolle ihre Laufbahn beenden, widersprach die Athletin und betonte, sie wolle auf jeden Fall noch an den Europameisterschaften in Stuttgart teilnehmen. 1986 holte sie sich dort zum dritten Mal in Folge nach Prag 1978 und Athen 1982 die Titel über 400 und 4x400 m.
Ein halbes Jahr darauf erklärte sie dann doch ihren Rücktritt, offiziell wegen andauernder Probleme an den Achillessehnen. Später kam heraus, dass sich Koch angesichts eines zunächst von der DDR-Sportführung zugesagten und dann widerrufenen dreiwöchigen Trainingslagers auf Kuba düpiert gefühlt und Konsequenzen gezogen habe. "Ich lasse mich doch nicht veralbern", wurde sie seinerzeit zitiert.
Von der Kunststoffbahn hinter die Ladentheke
Andererseits kam ihr der Rückzug ins Privatleben wohl nicht ungelegen. Vier Wochen vor der WM 1987 in Rom heiratete sie ihren langjährigen Trainer und Lebensgefährten Wolfgang Meier, zwei Jahre später kam Tochter Ulrike zur Welt.
Ihr Medizinstudium brach Koch ab; stattdessen eröffnete sie ein Sportmodegeschäft in Rostock. Als Ehrenpräsidentin des 1. LAV Rostock - wie der SC Empor seit 1998 heißt - blieb die umstrittene Weltrekordlerin ihrem Sport nahe.
Der Verdacht ist bis heute geblieben - und wohl auch Marita Kochs Gefühl, ungerecht behandelt zu werden. Interviews zum Thema gibt sie seit 2005 keine mehr. Für die einen steht die Rostockerin nach wie vor für ein DDR-Sportsystem, das es ohne Doping so nicht gegeben hätte. Für andere bleibt sie ein Idol.