Jubel bei den Zweitliga-Fußballern von Holstein Kiel © Witters Foto: Tim Groothuis

Weitsicht an der Waterkant: Darum ist Holstein Kiel im Höhenflug

Stand: 19.02.2021 09:08 Uhr

Holstein Kiel klopft mit Vehemenz ans Tor zur Fußball-Bundesliga. Was für Außenstehende wie ein Wunder von der Waterkant aussehen mag, ist das Resultat nachhaltiger Arbeit auf allen Ebenen beim deutschen Meister von 1912.

von Hanno Bode

Vor dem Zweitliga-Duell mit den Würzburger Kickers (1:0) am vergangenen Spieltag wurde Ole Werner gefragt, was es denn beim Gegner zu beachten gelte. Der Coach des Tabellendritten begann seine Antwort mit einem Satz, der wie eine Phrase klingt, im Falle der KSV jedoch treffend die Vereinsphilosophie beschreibt: "Wir müssen unsere Hausaufgaben machen. Darauf allein liegt unser Fokus." Denn der aktuelle Höhenflug der "Störche" wäre kaum denkbar, hätte die Clubführung in den vergangenen Jahren nicht so gearbeitet, wie die Mannschaft derzeit spielt: geduldig, unaufgeregt und zielstrebig.

"Wir versuchen, mit kleinen Schritten die nächste Hürde zu nehmen", sagte der Kaufmännische Geschäftsführer Wolfgang Schwenke im Podcast "Kassenzone" zur Herangehensweise des Clubs, im "Haifischbecken" Profifußball zu überleben. Denn: "Wir sind nicht im oberen, sondern im unteren Drittel der Nahrungskette. Und da wird man halt gefressen, wenn man nicht weiter nach oben kommt."

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Paradigmenwechsel nach Drittliga-Abstieg 2010

Als der 52-Jährige seinen Job bei Holstein 2009 antrat, war den Schleswig-Holsteinern gerade der Drittliga-Aufstieg geglückt. Dafür hatte der Club viel Geld für teure Spieler in die Hand genommen und sich die Dienste des vormaligen Bundesliga-Coaches Falko Götz gesichert. Sehr weitsichtig war diese Personalpolitik jedoch nicht. Der Star-Trainer wurde bald darauf gefeuert, das individuell starke, aber als Mannschaft nur bedingt funktionierende Team stieg sofort wieder ab. Die missglückte Saison führte zu einem Paradigmenwechsel bei der KSV. Fortan wurde auf allen Ebenen auf eine langfristige, nachhaltige Entwicklung gesetzt. Ein organisches Wachstum war das Ziel.

Langsamer Aufbau der Strukturen

Während es dem umtriebigen Schwenke ("Ich bin der Hüter des Budgets und muss zusehen, wo wir zusätzliches Budget herbekommen") gelang, den Sponsorenpool peu à peu zu vergrößern - heute unterstützen knapp 400 Firmen die KSV -, trieb der vormalige U19-Coach Thorsten Gutzeit den sportlichen Neuaufbau voran. Der gebürtige Kieler hatte nicht nur Stallgeruch, sondern auch ein gutes Händchen bei der Spielerauswahl. 2013 gelang die Drittliga-Rückkehr. Gutzeit, heute Co-Trainer beim Oberligisten TSV Bordesholm, trat anschließend zurück, weil er sich nicht imstande sah, die Doppelbelastung mit seiner Ausbildung zum Fußballlehrer zu meistern.

Als Nachfolger wurde in Karsten Neitzel ein Übungsleiter verpflichtet, der als Profi-Cheftrainer zuvor lediglich für 20 Partien den VfL Bochum betreut hatte. Für Holstein stand der gebürtige Dresdner dann 134 Spiele lang an der Seitenlinie und scheiterte 2015 erst in der Relegation am Sprung in die Zweite Liga.

Ex-Spieler Hartmann: "Hier ist ein Handschlag noch etwas wert"

Der Fast-Aufstieg war ein bemerkenswerter Erfolg, hatte die KSV den Kader nach dem Aufstieg zwei Jahre zuvor doch ausschließlich mit ablösefreien oder ausgeliehenen Profis verstärkt. Große Namen? Fehlanzeige! Stets wurde nicht nur auf die sportlichen, sondern auch zwischenmenschlichen Qualitäten der Spieler geschaut. Der häufig zitierte Satz von der "großen Familie" war bei Holstein mehr als nur eine Floskel. "Es ist ein sehr professionell geführter Verein, der trotzdem stets familiär war. Hier ist ein Handschlag noch etwas wert", sagte der frühere Verteidiger Manuel Hartmann in dem Film: "Holstein Kiel - Der Traditionsclub von der Förde".

Namhafte Abgänge stets gut kompensiert

David Kinsombi © imago / Claus Bergmann
David Kinsombi schaffte in Kiel den Durchbruch - und wechselte dann zum Hamburger SV.

In besagter Wohlfühloase mit Leistungsanspruch wurden viele Spieler in den darauffolgenden Jahren sehr viel besser. So gut, dass sie von der finanziell potenteren Konkurrenz abgeworben wurden. Dominick Drexler (heute 1. FC Köln), David Kinsombi (Hamburger SV) und Kingsley Schindler (Hannover 96) sind nur einige der bitteren Abgänge, die Kiel dazu zwangen, immer wieder neu aufzubauen. Ganz "nebenbei" erlagen auch die Coaches Markus Anfang, der mit Kiel 2017 den Zweitliga-Aufstieg schaffte, und sein Nachfolger Tim Walter (von Kiel zum VfB Stuttgart) dem Werben anderer Vereine.

Ablösesummen in Steine statt Beine investiert

So weh der Verlust der Leistungsträger und Trainer sportlich auch tat, so wertvoll war er für die Gesamtentwicklung des Clubs. "Wir haben hohe Transfersummen bekommen, die wir nicht in Spielerbeine, sondern in die Infrastruktur gesteckt haben", sagte Schwenke im "Kassenzone"-Podcast. In puncto Trainingsbedingungen ist die KSV bereits jetzt bundesligareif. Das Nachwuchsleistungszentrum ist vom Deutschen Fußball-Bund (DFB) mit drei Sternen zertifiziert und das Holstein-Stadion wird gerade umgebaut. Es soll bis 2024 ein Fassungsvermögen von bis zu 22.000 Zuschauern haben.

Bevor wegen der Coronavirus-Pandemie die Zeit der Geisterspiele anbrach, verfolgten im Durchschnitt mehr als 11.000 Fans die Heimpartien der "Störche". Die KSV ist im handballverrückten Kiel längst nicht mehr nur eine Art kleiner Bruder von den THW-Handballern, die im Dezember die Champions League gewonnen haben.

Trainer Werner als Glücksgriff

Coach Ole Werner von Holstein Kiel © picture alliance/dpa Foto: Christian Charisius
Ole Werner wurde Ende Oktober 2020 zum Holstein-Chefcoach befördert.

Es ist schon beinahe eine Ironie der Holstein-Erfolgsgeschichte der vergangenen Jahre, die so viel mit guten Personalentscheidungen zu tun hat, dass es eines Missverständnisses bedurfte, um den vielleicht entscheidenden Schritt in der sportlichen Entwicklung zu machen. Denn die Verpflichtung von Coach André Schubert im Sommer 2019 von Eintracht Braunschweig entpuppte sich rasch als Fehler. Der fachlich anerkannte, aber menschlich bereits bei seinen vorigen Stationen angeeckte Fußballlehrer passte mit seiner zuweilen undiplomatischen Art nicht nach Kiel. Zudem blieben Siege aus, sodass die Clubführung nach lediglich sieben Begegnungen die Reißleine zog.

Werner, der zuvor die U23 der KSV erfolgreich betreut hatte, übernahm zunächst interimsmäßig und wurde dann auch auf Wunsch der Mannschaft zum Chefcoach befördert. Obgleich der gebürtige Preetzer, der früher selbst für Holstein spielte, parallel zu seinem Job bei den "Störchen" noch seinen Fußballlehrer machte und daher selten beim Team war, gelang den Norddeutschen sicher der Klassenerhalt.

Mit kontrollierter Offensive in die Spitzengruppe

Eine kontinuierliche fußballerische Verbesserung war bereits in der vergangenen Saison sichtbar. In dieser Spielzeit trägt Holstein nun noch deutlicher die Handschrift eines der wohl größten deutschen Trainer-Talente. Der gelernte Bankkaufmann setzt dabei wie einst Otto Rehhagel bei Werder Bremen auf kontrollierte Offensive. "Wir müssen gegen den Ball konzentriert arbeiten, aggressiv verteidigen. Und vor allem müssen wir auch darauf achten, dass unsere Fehlerquote im eigenen Ballbesitz nicht zu hoch ist und wir eine vernünftige Konterabsicherung haben", erklärte Werner jüngst.

Klappt bis dato fast perfekt. Holstein stellt mit nur 19 Gegentreffern die beste Zweitliga-Defensive. Selbst die Münchner "Titelhamster" des FC Bayern fanden im Zweitrundenspiel des DFB-Pokals nur wenige Lösungen gegen die disziplinierten Kieler und schieden im Elfmeterschießen aus.

Erstmals seit Jahren kein großer Umbruch vor Saisonbeginn

Die Kieler Fußball-Profis Janni Serra (l.) und Jae-sung Lee feiern ein Tor. © picture alliance / dpa
Umworbene Kieler Leistungsträger: Janni Serra (l.) und Jae-sung Lee.

Doch der "Rekordpokalsiegerbesieger", wie sich die KSV mit einem Augenzwinkern taufte, kann nicht nur gut verteidigen. Das Mittelfeld und die "Abteilung Attacke" sind unter anderem mit Alexander Mühling, Rückkehrer Fin Bartels, Janni Serra, Fabian Reese und Jae-sung Lee ebenfalls hochkarätig besetzt. Überhaupt profitiert Werner in dieser Serie fraglos davon, dass es im vergangenen Sommer erstmals seit Jahren keinen größeren Umbruch gab. Ein klares Indiz dafür, dass der Pokalviertelfinalist inzwischen finanziell in der Lage ist, Leistungsträger zu halten. Dafür spricht das Veto in der Winterpause gegen einen Wechsel von Torjäger Serra zum Bundesligisten Arminia Bielefeld. Auch der ebenfalls von anderen Clubs umworbene Lee wurde nicht abgegeben.

Aufstieg? Werner stapelt noch tief

Der Aufstieg in die Bundesliga - Holstein wäre der erste Club aus Schleswig-Holstein in der Beletage - würde es den Norddeutschen gewiss erleichtern, ihre begehrten Spieler von einem Verbleib zu überzeugen. Und auch Erfolgscoach Werner, den Nordrivale HSV bereits einige Male in den Vorjahren als Nachwuchstrainer holen wollte, könnte sich in seiner Heimat auf höchstem Niveau weiterentwickeln. So weit möchte der 32-Jährige aber 13 Spieltage vor dem Saisonende noch nicht denken. Die Tabelle werde "irgendwann im Mai interessant", sagte er. Klingt nach Understatement. Und das ist es natürlich in Anbetracht der stabilen Kieler Vorstellungen auch.

Mühling: "Wollen da oben bleiben"

Und das Wernersche Personal geht auch etwas forscher in das letzte Saisondrittel. "Wir sind oben dabei und haben bewiesen, dass wir zu Recht dort stehen. Und von daher wollen wir auch da oben bleiben", erklärte Mittelfeldmann Mühling. Angreifer Serra schlug im Interview mit dem NDR in dieselbe Kerbe: "Wir haben jetzt 42 Punkte, so viele haben wir, glaube ich, in der gesamten letzten Saison geholt. Wir sind jetzt unter den Top Vier oben drin. Da kann es nur heißen, dass man unter die Top Drei oder am besten unter die Top Zwei kommt."

Montag Topspiel in Fürth

Ein Erfolg am Montag (20.30 Uhr, im Livecenter bei NDR.de) im Topspiel bei der SpVgg Greuther Fürth wäre der nächste kleine Schritt auf dem Weg in die Eliteklasse, von der an der Waterkant vor wenigen Jahren noch niemand zu träumen wagte. "Wenn wir Geschichte schreiben können und irgendwann mal die Chance bekommen aufzusteigen, wollen wir die natürlich gerne nutzen. Aber dafür bedarf es ein wenig Geduld", sagte Geschäftsführer Schwenke vor einem Jahr.

Nun ist besagte Chance zum Greifen nah, sogar das "Double" aus Aufstieg und Pokalsieg möglich - weil Holstein strebsam und akribisch seine "Hausaufgaben" erledigt hat in der vergangenen Dekade.

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Dieses Thema im Programm:

Sport aktuell | 22.02.2021 | 19:25 Uhr

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