Mythos Bremer Brücke: 125 Jahre VfL Osnabrück
Der VfL Osnabrück feiert seinen 125. Geburtstag und droht zum achten Mal aus der Zweiten Liga abzusteigen. Eine Fahrstuhl-Mannschaft mit Tradition und Mythos, die Erfolge feierte, weiterhin schlechten Zeiten trotzt - und einst sogar tierischen Beistand bekam.
Himmel und Hölle, Aufstieg und Abstieg im steten Wechsel - der Wahnsinn hat Tradition beim VfL Osnabrück. Auch nach 125 Jahren hat sich daran nicht sonderlich viel geändert. Auf Geburtstags-Geschenke - zumindest sportlicher Natur - müssen die Lila-Weißen aktuell verzichten und sich stattdessen wohl wieder einmal mit dem drohenden Abstieg aus der zweiten Fußball-Bundesliga befassen.
Trübe Stimmung ist bei den Feierlichkeiten des am 17. April 1899 aus dem Zusammenschluss von Antipodia und Minerva zum FC 1899 Osnabrück entstandenen Vereins trotzdem nicht zu erwarten. Der später im Verein für Leibesübungen aufgegangene Club, den man heute mit Fug und Recht als Fahrstuhl-Mannschaft bezeichnen kann, ist schließlich Kummer gewohnt.
Prädikat: Stehaufmännchen
Sieben Mal haben die Niedersachsen den Abstieg schon "überlebt" und sind immer stolz und erfolgreich ins Unterhaus der Bundesliga zurückgekehrt. Wer so gestählt ist, der wird sich von einem erneuten Rückschlag nicht unterkriegen lassen. "Der VfL ist so etwas wie ein Stehaufmännchen", sagt der Sportjournalist Harald Pistorius, der den Club in guten wie in schlechten Zeiten seit 44 Jahren begleitet. Von sportlichen Höhen und Tiefen mit Joe Enochs oder Daniel Thioune hat er berichtet, die als Spieler und Trainer Spuren in Osnabrück hinterlassen haben, von eigenwilligen Präsidenten, Existenzsorgen, aber auch von Triumphen und Pleiten. Eben alles, "was den Club auszeichnet und auch seine Fans", so Pistorius im NDR Interview.
Die Bühne: Bremer Brücke
Die Bühne dafür heißt Bremer Brücke, das Stadion der Lila-Weißen, ein Mythos. Ein "zentraler Ort", so der 71-jährige Lothar Gans, der als Spieler (1975-1984), Manager, Sportdirektor und inzwischen in beratender Funktion dem Club treu geblieben ist.
Ein Urgestein, das so ziemlich alles erlebt hat in der Heimstatt inmitten des Arbeiterviertels Schinkel, die an das urbane Flair von Stadien in England erinnert.
"Die Bremer Brücke ist das Herz des Vereins, die emotionale Heimat", sagt David Kreutzmann. Er ist Fanbeauftragter des VfL Osnabrück, Ultra, Kenner der VfL-Geschichte und Hüter fotografischer Raritäten bis hin zum Gründungsjahr 1899. Er hat sogar noch Aufnahmen vom Bau des Stadions, die zeigen, wie Morast von der städtischen Müllabfuhr mit hunderten Wangenladungen Hausmüll trockengelegt wurde. "Eine Schicht Mutterboden obendrauf", so Kreutzmann, "undenkbar aus heutiger Sicht."
Gerhild Gierschner - lebenslange Treue
Im Zweiten Weltkrieg fast völlig zerstört, kam der Fußball 1947 zurück an die Bremer Brücke. Die 92-jährige Gerhild Gierschner, die schon als Kind von ihrem Vater mit dem "VfL-Virus" infiziert worden war, erinnert sich noch gut an die Jahre, als die Fans in den Bäumen kauerten oder bis dicht am Spielfeld standen. Heute zieren Aufkleber und Devotionalien des Vereins den Rollator von "Tante Gerhild", wie sie die Ordner liebevoll nennen. Wahrhaft lebenslange Treue.
Vereinstreue ist ein hohes Gut, das der VfL sichtbar bewahrt. Die "Helden der Bremer Brücke" prangen überlebensgroß an der Fassade der Arena. Besonders stolz ist der VfL auf seinen Nationalspieler "Hannes" Haferkamp. Der "Fritz Walter des Nordens" bestritt vier Länderspiele und wäre bei der Weltmeisterschaft 1954 womöglich Teil des "Wunders von Bern" geworden, wenn nicht eine Tuberkulose seine Ambitionen durchkreuzt hätte.
Traum von der Bundesliga - bis heute unerfüllt
Als Idol gilt auch Walter Wiethe. Von 1963 bis 1972 gestaltete er mit Spielwitz und Schnelligkeit bei drei Nordmeisterschaften goldene Zeiten des VfL mit.
In der Saison 1968/69 klopfte der Verein sogar an die Tür zur Bundesliga. Zum ersten Aufstiegsduell gegen Rot-Weiß Essen kamen 33.000 Zuschauer an die Bremer Brücke. Präsident Friedel Schwarze, ein Maschinenbau-Unternehmer, hatten eigens eine Stahlrohrtribüne bauen lassen. "Natürlich wäre ich gerne Bundesliga-Profi geworden", sagt Wiethe. Bei seinem Abschiedsspiel tauschte er den Wimpel mit "Kaiser" Franz Beckenbauer - ein Trostpflaster. "Es war wunderschön hier zu spielen - eine Wohlfühloase."
Auch Lothar Gans weiß, dass seine 1975 in Osnabrück gestartete Karriere sein Leben nachhaltig geprägt hat. Der Mittelfeld- und Abwehr-Stratege war ein Garant für Zuverlässigkeit. Doch ausgerechnet vor dem Pokal-Kracher bei Bayern München brach er sich das Wadenbein und musste den "sensationellen" 5:4-Sieg seiner Kollegen im Zweitrundenspiel 1978 am Radio verfolgen. Dem Hochgefühl folgte für den Rest der Saison Tristesse. Das Abstiegsgespenst konnte nur vertrieben werden, weil der FC St. Pauli keine Lizenz bekam.
Pistorius: "Langweilig wird es mit dem VfL nie"
"Langweilig wird es mit dem VfL nie; manchmal ist es sogar anstrengend", sagt Harald Pistorius. Manch markanten Präsidenten hat der Bruder von Verteidigungsminister Boris Pistorius erlebt und für die "Neue Osnabrücker Zeitung" interviewt. Zuvorderst Hartwig Piepenbrock, der aus einem familiären Gebäudereinigungsbetrieb einen Konzern mit Milliardenumsatz gemacht hat. "Und", so Pistorius, "den VfL auch führen wollte wie ein Unternehmen."
Piepenbrock - Präsident mit Puma an der Leine
"Er war der Mann, der dafür gesorgt hat, dass der VfL überhaupt in der Zweiten Bundesliga eine Rolle spielen konnte", erklärt der 67-Jährige.
Der im Juli 2013 gestorbene Piepenbrock war von 1971 bis 1996 nicht nur Präsident, sondern auch bedeutender Sponsor - zeitweise trug die Bremer Brücke sogar seinen Namen. Ein streitbarer Chef mit unbestritten ungewöhnlichen Methoden. Als 1979 ein Ausrüsterwechsel (von adidas zu Puma) zu scheitern drohte, lieh er sich kurzerhand einen leibhaftigen Puma aus einem Privatzoo und stolzierte mit der Raubkatze an der Leine über den Rasen. "Der hatte nicht mal einen Maulkorb", erinnert sich Gans.
Piepenbrock spielte nach seinen Regeln, träumte vergeblich von der Bundesliga und sorgte für Schlagzeilen. "Mir hat das heute gereicht", hieß es beispielsweise nach einer Niederlage bei Aufsteiger FSV Frankfurt. Der Chef sei fürchterlich ärgerlich geworden, so Gans, kaum zu beruhigen - und habe sieben Spielern eine Abmahnung geschickt, die später wieder zurückgenommen wurde. Vor laufender Kamera zitierte er 1983 aus dem Schriftstück: "Nach Paragraf zwei des Vertrages sind sie verpflichtet, ihre ganze Kraft und sportliche Leistungsfähigkeit uneingeschränkt für den Verein einzusetzen. Dieser Verpflichtung sind sie zum wiederholten Male nicht nachgekommen."
Der Tiefpunkt: Manipulation und Wettbetrug
Für einen der schwärzesten Momente der Vereinsgeschichte sorgten 2009 Manipulationsvorwürfe und die letztlich erwiesene Beteiligung zweier VfL-Spieler am Wettbetrug. "Ich konnte das gar nicht glauben, dass Spieler, die wir Woche für Woche hier sehen, so etwas gemacht haben", erzählt Zeugwart Mario Richter, den es allein bei dem Gedanken noch heute schaudert. "Ja, das hat den Verein in den Grundfesten erschüttert", sagt Pistorius. Er habe erlebt, wie die Karrieren zweier Spieler (Thomas Cichon und Marcel Schuon, d.Red.) deshalb vorzeitig zu Ende gingen.
Gans und Schock wenden Insolvenz ab
Doch damit nicht genug. Nur drei Jahre später drohten die Lichter an der Bremer Brücke gänzlich auszugehen. Altschulden drückten und trieben den Club beinahe in die Insolvenz. "Der Verein stand am Abgrund, Zentimeter dicht", sagt Pistorius. Und Gans fügt hinzu, manchmal noch kurz vor Ultimo nicht gewusst zu haben, wie der Club die Gehälter zahlen solle: "Das war für mich das Schlimmste." Gemeinsam mit Gerd-Volker Schock gelang es Gans, dank einer Finanzspritze der Stadt den Exitus zu verhindern.
Thioune - Osnabrücker mit "lila-weißem" Blut
"Ich glaube, teilweise haben sie sogar mit ihrem Privatvermögen gebürgt", erinnert sich Daniel Thioune im NDR. Der Ex-Spieler und -Trainer ist waschechter Osnabrücker "mit lila-weißem Blut", wie er selbst sagt. Den Mythos Bremer Brücke habe er schon früh mit seinem Vater aufgesaugt. Als sich der VfL anschickte, in der Saison 1999/2000 in die Zweite Liga aufzusteigen, musste der erfolgreiche Stürmer allerdings verletzt passen. "Ich war nur dabei, nicht mittendrin."
Aufstieg nach Elfmeter-Krimi
Beide Partien gegen Union Berlin endeten 1:1 nach Verlängerung. Entscheidung vom Elfmeterpunkt. Die Bremer Brücke kochte.
Am Spielfeldrand stand Trainer und Manager Gans, blass vor Nervosität, und dachte an die 6,7 Millionen (damals noch D-Mark), die der Sieger aus dem Topf mit den TV-Einnahmen kassieren würde. Geld, das dem klammen VfL die ärgsten Existenzsorgen nehmen würde.
Anspannung pur und dann dies: Torwart Uwe Brunn nimmt sich beim Stand von 7:7 den Ball, will schießen. "Mein Gott, das wird nichts", habe er gedacht, sagt Gans. Aber Brunn trifft souverän. Besser noch: Den Elfer von Union-Keeper Kay Wehner hält er. Die Fans stürmen den Platz - Osnabrück ist in der Zweiten Liga! "Eine unglaubliche Geschichte, ich krieg immer noch eine Gänsehaut", sagt Joe Enochs, der damals zum 5:4 traf und später auch als VfL-Trainer wirkte.
Pistorius adelt Thioune: "Außergewöhnlich"
Den denkwürdigsten Fußabdruck als Coach hat für Pistorius aber ein anderer hinterlassen. "Daniel Thioune hat hier als Trainer sicherlich den größten Erfolg der letzten Jahre gefeiert", zollt ihm der langjährige VfL-Wegbegleiter große Anerkennung. "Der Aufbau einer neuen Mannschaft, der Aufstieg in der Saison 2018/19 und dann der Klassenerhalt - das war schon außergewöhnlich."
Die Bilder von der Jubel-PK wieder vor Augen, die Euphorie mit zahllosen Sektduschen im Sinn, gibt der heutige Trainer von Fortuna Düsseldorf das Lob jedoch gerne weiter: "Es war brutal, was diese Mannschaft über 38 Spieltage geliefert hat." Unbeschreiblich, als die Fans das Spielfeld stürmten und wieder einmal den Mythos Bremer Brücke beschworen. Fortsetzung nicht ausgeschlossen - trotz sportlich etwas getrübter Stimmung zum 125. Vereinsjubiläum.