Die iranische Nationalmannschaft vor dem WM-Spiel gegen England © IMAGO / AFLOSPORT

Iran-Experte zu WM-Protest: "Es müssen noch weitere Zeichen kommen"

Stand: 23.11.2022 14:55 Uhr

Wie wird der stumme Protest der iranischen Fußball-Nationalspieler vor dem Spiel gegen England (2:6) bei der WM in Katar in der Heimat wahrgenommen? Welche Konsequenzen drohen den Profis möglicherweise und wie geht es weiter? Sportjournalist und Iran-Experte Farid Ashrafian im NDR Interview mit Antworten.

Farid Ashrafian, die iranische Mannschaft hat die Hymne vor dem Spiel gegen England nicht mitgesungen. Wie sind die Reaktionen darauf in Iran?

Farid Ashrafian: Das kollektive Schweigen hat hohe Wellen geschlagen. Man muss bedenken, dass es sich nicht um die eigentliche, traditionelle Nationalhymne für die Iranerinnen und Iraner handelt, sondern um die Hymne der Islamischen Republik. Damit identifizieren sich die Bürgerinnen und Bürger nicht. Der Wortlaut dieser Hymne beinhaltet, dass die Islamische Republik immer weiter existieren möge. Und genau das wollen ja die Menschen in Iran nicht.

Dass sich alle elf Spieler im Kollektiv geweigert haben, die Hymne zu singen, war ein klares und eindeutiges Statement. Moralisch gesehen hat das Team gepunktet, obwohl es fußballerisch mit null Punkten vom Feld gegangen ist. Das wurde in der iranischen Society, die den Nationalspielern bis dato relativ kritisch gegenüberstand, sehr positiv aufgenommen. Die regimenahe Presse hat das Auftreten natürlich scharf verurteilt.

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Die iranische Nationalmannschaft vor dem WM-Spiel gegen England © IMAGO / Kyodo News

Solidarität mit Protesten - Irans Spieler schweigen bei Nationalhymne

Die Nationalmannschaft des Iran setzte vor dem WM-Spiel gegen England ein Zeichen gegen das Regime in ihrem Heimatland. extern

In Iran wurden vielerorts allerdings die Tore der Engländer bejubelt. Wer war das?

Ashrafian: Das waren ganz normale Bürgerinnen und Bürger auf den Straßen von diversen iranischen Städten. Sympathiebekundungen für den Gegner der iranischen Nationalmannschaft haben absoluten Seltenheitswert. Mehrheitlich kann man gegenwärtig beobachten, dass die Nationalmannschaft nicht als Vertreter des Volkes gesehen wird.

Warum ist das so?

Ashrafian: Die Fans haben sich von der eigenen Nationalmannschaft entfremdet. Sie sehen die Spieler nicht mehr als ihre Repräsentanten auf der Weltbühne, weil sie sich nicht klar und eindeutig mit der Freiheitsbewegung solidarisiert haben. Und weil die Nationalspieler - und das ist viel wichtiger - die barbarische und brutale Niederschlagung der Proteste durch das Mullah-Regime nicht entschieden genug verurteilt haben. Das alles führt dazu, dass man die Nationalmannschaft nicht als Mannschaft des Volkes sieht, sondern als Mannschaft des Mullah-Regimes.

Hat das Signal, die Hymne nicht mitgesungen zu haben, nicht gereicht?

Ashrafian: Dieses kollektive Schweigen könnte ein Anfang sein für einen Stimmungsumschwung, aber es ist nicht ausreichend. Die vorherige Positionierung der Nationalmannschaft, die sich über viele Wochen hinweg manifestiert hat, war deutlich stärker als dieses kurzfristige Signal. Es müssen weitere Zeichen hinzukommen, damit es zu einem Stimmungsumschwung kommt.

Welche Rolle spielt dabei ein Termin der Mannschaft vor der WM beim iranischen Präsident Ebrahim Raisi?

Ashrafian: Der Besuch beim Staatspräsidenten Raisi, dessen Spitzname der "Metzger von Teheran" ist und der bei den meisten Iranerinnen und Iranern extrem verhasst ist, hat dafür gesorgt, dass der Entfremdungsprozess der Fans von der eigenen Nationalmannschaft enorm vorangeschritten ist. Mit ihrem kollektiven Protest vor dem Spiel gegen England haben sie versucht, das Ganze einigermaßen zu retten. Man darf gespannt sein, inwieweit die fußballverrückten Iranerinnen und Iraner den Nationalspielern diese Kehrtwende abnehmen.

Wo ist die Mannschaft ideologisch überhaupt zu verorten?

Ashrafian: Man kann nicht von einer Mannschaft sprechen, sie ist nicht homogen. Es gibt regimenahe Nationalspieler wie Mehdi Torabi und Vahid Amiri, die sich auch entsprechend positioniert haben. Aber der große Rest der Nationalmannschaft sieht sich als Vertreter des Volkes, hat allerdings bislang nicht den notwendigen Mut an den Tag gelegt, diese Haltung zu demonstrieren und sich nach außen moderat verhalten.

Mit welchen Konsequenzen müssen Spieler nach ihrem Protest rechnen, wenn sie in den Iran zurückkehren?

Ashrafian: Ein aktiver Nationalspieler würde erst dann festgenommen werden und ins Gefängnis kommen, wenn er beispielsweise auf der Straße aktiv gegen das Regime Parolen skandiert. Aus diesen Gründen sitzt gegenwärtig der ehemalige iranische Nationaltorwart Parwiz Boroumand in Haft, weil er unmittelbar vor WM-Beginn diesbezüglich in Erscheinung getreten war.

Wenn aber jemand die Hymne nicht mitsingt, wird er vom Regime ignoriert und vielleicht wird auch sein familiäres Umfeld belästigt. Er könnte zudem in der regimetreuen Presse negativ dargestellt werden. Aber das Nichtmitsingen der Hymne wird für die Nationalspieler keine wirklich schmerzhaften Konsequenzen haben.

Müssen ehemalige Nationalspieler wie Ali Daei oder Ali Karimi, die sich nur solidarisiert haben ohne selber auf der Straße gewesen zu sein, handfestere Konsequenzen fürchten?

Ashrafian: Die Konsequenz bei Ali Daei war, dass man seinen Reisepass für wenige Tage eingezogen und ihn dann wieder zurückgegeben hat. Vielleicht wird man ihn darin hindern auszureisen, oder ihm bei der Ausreise irgendwelche Sachen in die Schuhe schieben. Ali Karimi drohen hingegen auch härtere Maßnahmen. Er würde ein sehr gefährliches Leben führen, wenn er in Iran wäre.

Wonach wird da unterschieden? Traut sich das Regime nicht, gegen aktuelle Fußballer der Nationalmannschaft vorzugehen?

Ashrafian: Das Regime ist sehr sensibel, was öffentlichkeitswirksame Bekundungen angeht. Ali Karimi postet täglich bei Instagram und Twitter, mit sehr klaren und deutlichen Hinweisen. Er hat quasi eine Art Führungsrolle bei den Protesten übernommen. Er spielt da eine ganz große Rolle im Vergleich zu Spielern, die sich alle paar Tage mit relativ milder Kritik äußern. Da gibt es schon große Unterschiede.

Rund um das Spiel gegen England soll die katarische Polizei Flaggen beschlagnahmt haben, die für das Iran vor der Machtübernahme der Mullahs standen. Reicht der Arm des iranischen Regimes auch bis nach Katar?

Ashrafian: Leider ja. Wenige Wochen vor WM-Beginn hatte der iranische Staatspräsident den eigenen Außenminister angewiesen, mit dem katarischen Staat Verbindung aufzunehmen und dafür zu sorgen, dass sich die Protestbewegung der Iranerinnen und Iraner in Katar nicht entfaltet. Was man jetzt im Rahmen des England-Spiels beobachtet hat, ist ein Effekt davon.

Wie wird es mit dem iranischen Nationalteam bei der WM in Katar weitergehen?

Ashrafian: Man muss zwischen der sportlichen und psychologischen Ebene differenzieren. Vor dem England-Spiel standen die iranischen Nationalspieler auf beiden Ebenen unter enormem Druck. Sportlich hatte die Mannschaft keine Chance, hat den haushohen Favoriten jetzt aber hinter sich. Der psychologische Druck dürfte weniger geworden sein, weil sie ein starkes Statement der Solidarität mit den eigenen Mitbürgerinnen und Mitbürgern gesendet haben.

Man kann davon ausgehen, dass bei den nächsten beiden Spielen (am Freitag gegen Wales und am Dienstag gegen die USA, d.Red.) auf beiden Ebenen eine gewisse Erleichterung zu sehen sein wird. Und dass sich die Mannschaft auf ihre sportlichen Qualitäten besinnt, die sie zweifelsohne hat. Für mich als Sportjournalist hat der Iran nach England durchaus Chancen auf das Erreichen des Achtelfinales.

Das Interview führte Jonas Freudenhammer

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Dieses Thema im Programm:

Sport aktuell | 23.11.2022 | 07:17 Uhr

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