HSV-Trainer Baumgart: Der nächste Versuch ist sein wichtigster

Stand: 01.08.2024 18:48 Uhr

Steffen Baumgart soll den HSV zum Bundesliga-Aufstieg führen. Der gebürtige Rostocker hat bereits eine bewegte Karriere als Spieler und Coach hinter sich, die ihn zu dem gemacht hat, was er heute ist: ein vom Ehrgeiz besessener Trainer, der um jede Chance kämpft.

von Hanno Bode und Tim Osing

Am 21. Januar 2023 liegen sich nach dem Halbzeitpfiff des Bundesliga-Duells zwischen dem 1. FC Köln und Werder Bremen sehr viele Menschen im Müngersdorfer Stadion in den Armen. Liebkosungen - auch zwischen Fremden - sind in der Karnevalsstadt gerade zur "fünften Jahreszeit" zwar nicht unüblich.

An diesem Samstagabend aber hat ihr "Effzeh" die Zuschauer überglücklich gemacht. Mit sage und schreibe 5:1 führen die Rheinländer nach 45 Minuten. Jubel, Trubel, Heiterkeit auf den Rängen - aber richtig dicke Luft in der Kabine.

"Ein Spiel ist erst zu Ende, wenn der Schiedsrichter pfeift und ich nicht mehr brülle." Steffen Baumgarts "Fußballspruch des Jahres" 2021

"Lauft ihr noch ganz rund? Habt ihr irgendwie eine Macke, dass wir auf einmal was verändern, nur noch nach hinten spielen und uns selbst in die Sch... reiten? Ist alles klar bei euch, oder was?", fragt Steffen Baumgart seine Kicker, die den erbosten Coach entgeistert mit großen Augen anschauen. Das passive Verhalten der Kölner kurz vor der Pause sowie der Bremer Anschlusstreffer haben den Übungsleiter erzürnt. Der frühere Vollblutstürmer fordert von seiner Mannschaft Konzentration von der ersten bis zur letzten Sekunde.

Jetzt beginnt seine wichtigste Mission

"Ein Spiel ist erst zu Ende, wenn der Schiedsrichter pfeift und ich nicht mehr brülle." Das ist die Steffen-Baumgart-Version von "Gib niemals auf", die 2021 von der Deutschen Akademie für Fußball-Kultur mit dem "Fußballspruch des Jahres" ausgezeichnet wurde. Nie aufgeben, aufstehen, es erneut versuchen, mit Rückschlägen umgehen - das prägt die Karriere des 52-Jährigen. "Mir haben Leute oft gesagt, was ich alles nicht kann", sagte Baumgart jüngst gegenüber "11 Freunde". "Deshalb habe ich von Scheißtrainern mehr gelernt als von guten. Weil die mich herausgefordert haben, mehr zu tun."

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Mehr tun, es probieren, machen. Oft genutzte Vokabeln des dreifachen Familienvaters, der seit einem halben Jahr bei seinem Lieblingsverein arbeitet, vom HSV aber noch nicht dieselbe Liebe zurückbekommt. Im Juni, nachdem der Aufstieg verpasst wurde, wünschten sich viele im Aufsichtsrat und bei den Fans Baumgarts Entlassung. Für ihn ist das ein noch größerer Antrieb, die zweite Chance zu nutzen. Der nächste Versuch ist bei Baumgart immer der wichtigste. Dass er damit umgehen kann, liegt an seiner besonderen Karriere.

"Ich war damals ganz unten, nicht mehr kreditwürdig"

2010 beim Regionalligisten 1. FC Magdeburg stand Baumgart vor dem Nichts. Ihn plagten Existenzängste, wie er in einem Interview mit der "Sport Bild" offen zugab: "Ich war damals ganz unten. Zum damaligen Zeitpunkt war ich nicht mehr kreditwürdig. Meine Frau hat für unsere Familie das Geld verdient."

Nur weil ihm ein Freund die Gebühr für den Kurs zum Fußball-Lehrer lieh, war ihm der spätere Sprung in den Profifußball überhaupt möglich. "Wenn ich ihn nicht gehabt hätte, dann würden jetzt hier nicht zum Interview sitzen. Dann wäre ich am Ende vielleicht Busfahrer geworden oder Lkw-Fahrer."

HSV-Coach stürmte für Hansa und Wolfsburg

Steffen Baumgart (r.) im Trikot des FC Hansa Rostock (Foto aus dem Jahr 1999) © IMAGO / Contrast
Baumgart (r.), hier im Trikot von Hansa Rostock, bestritt über 200 Bundesliga-Partien.

Pleite trotz 225 Bundesliga-Einsätzen sowie 142 Zweitliga-Partien - das war die bittere Wahrheit für Baumgart nach seiner aktiven Karriere, in der er unter anderem für den FC Hansa Rostock, VfL Wolfsburg, Union Berlin und Energie Cottbus aufgelaufen war. Der frühere Torjäger hatte sein Geld wie so viele andere Ex-Profis falsch angelegt. Aber aufgeben kam nicht infrage, wie damals als Stürmer kämpfte Baumgart um jede Chance.

Fußball war sein Leben - und sollte es auch bleiben, obwohl er auch als Instandhaltungs- oder KFZ-Mechaniker hätte arbeiten können. Diese Berufe hatte er schließlich erlernt und in der damaligen DDR zudem ein Jahr als Bereitschaftspolizist seinen Lebensunterhalt verdient.

Durchbruch als Trainer beim Berliner AK

Baumgart wollte weiter den Rasen riechen - und war sich dafür auch nicht zu schade, einen Bezirksligisten zu übernehmen. Nach einem Intermezzo als Co-Trainer beim FC Hansa wurde er 2014 Chefcoach des SSV Köpenick-Oberspree. Doch nach eineinhalb durchwachsenen Jahren inklusive eines Abstiegs war auch dieses Abenteuer wieder beendet.

Die Fußball-Welt stand Baumgart anschließend nicht offen, aber es öffnete sich immerhin eine interessante Tür: Regionalligist Berliner AK glaubte an die Fähigkeiten des Ex-Profis und verpflichtete ihn zur Saison 2015/2016 - und hier begann die Erfolgsgeschichte. Bis zum letzten Spieltag kämpfte er mit den Moabitern sensationell um den Drittliga-Aufstieg.

Zwei Aufstiege mit dem SC Paderborn

Trainer Steffen Baumgart vom SC Paderborn © IMAGO / Sven Simon
Baumgart gelang mit dem SC Paderborn der Durchmarsch von der Dritten Liga in die Bundesliga.

Mitte 2017 klopfte der SC Paderborn an. Als die von der Bundesliga in die Dritte Liga durchgereichten Ostwestfalen vor dem nächsten Abstieg standen, baten sie Baumgart, den Trainerjob zu übernehmen. Er sagte trotz der ziemlich aussichtslosen Lage des Clubs zu und holte in den verbleibenden sechs Partien 14 Punkte mit dem SCP.

Sportlich stieg Paderborn dennoch ab. Weil 1860 München aber keine Lizenz erhielt, blieb der Club drittklassig. Allerdings nur ein Jahr. Denn dann führte Baumgart die Ostwestfalen in die Zweite Liga. Nur zwölf Monate später war sogar der Durchmarsch in die Bundesliga perfekt. Ein Traum für den SC Paderborn. Und ein Traum für Steffen Baumgart, der sich wenige Jahre zuvor noch das Geld für die Trainer-Lizenz hatte borgen müssen.

Mit Köln in Premieren-Saison in den Europapokal

Die Beletage erwies sich dann für die Ostwestfalen mit ihren vergleichsweise geringen finanziellen Mitteln zwar als eine Nummer zu groß, sodass der sofortige Wiederabstieg zu Buche schlug. Baumgart jedoch blieb der Bundesliga erhalten. Er übernahm den 1. FC Köln und führte den "Efffzeh" gleich in der ersten Saison in den internationalen Wettbewerb. In der Spielzeit darauf gelang souverän der Klassenerhalt, bevor der Traditionsclub aus finanziellen Gründen viele Spieler ziehen lassen musste und in den Tabellenkeller stürzte.

Als die Wege sich trennten und wenig später der HSV parallel wieder am Aufstieg zu scheitern drohte, ersetzten die Hamburger ihren Coach Tim Walter durch Baumgart. Der erhoffte, sofortige Erfolg stellte sich nicht ein, der neue Sportvorstand Stefan Kuntz hielt dennoch an Baumgart fest. "Als Fußballer haben wir in Sachen Talent die Hand beide nicht so hochgestreckt wie andere, wir sind trotzdem unseren Weg gegangen", sagte Kuntz im gemeinsamen "11 Freunde"-Interview. "Jeder Misserfolg, jede Zurückweisung war bei uns oft nur die nächste zusätzliche Motivation, um einen neuen Versuch zu starten."

"Neustart" in Köln - auch für Baumgart "besonders"

Also der nächste Versuch - der siebte für den HSV, der zweite für Baumgart. Jetzt hatte er eine ganze Vorbereitung lang Zeit, mit dem Team zu arbeiten. Baumgart wirkte im Sommer entspannter und positiver als noch zu Beginn seiner Zeit in Hamburg, als viele seiner Ideen noch nicht funktionierten. "Freitag ist ein absoluter Neustart", sagte der Trainer am Mittwoch in der Pressekonferenz vor dem Köln-Spiel.

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"Dass diese Konstellation für den ersten Spieltag etwas Besonderes ist, steht außer Frage", so Baumgart. "Das ist ein besonderes Spiel für mich, das wird es auch noch in zehn Jahren sein, weil ich eine schöne Zeit in Köln hatte." Damit hätte es sich aber auch. "Wie sagt man so schön? Nur der HSV."

Er weiß, dass Hamburg diesmal den Aufstieg von ihm erwartet. "Wenn wir dem nicht gerecht werden, weiß ich nicht, ob Sie noch lange mit mir reden", sagte Baumgart zu den anwesenden Journalisten. Über die Rückkehr in die Bundesliga habe man aber schon oft gesprochen in der Hansestadt, weiß der gebürtige Rostocker. "Jetzt geht es darum, klar zu sein, wach zu sein, nicht immer nur zu erzählen, sondern zu machen."

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Dieses Thema im Programm:

NDR 2 Sport | 02.08.2024 | 20:30 Uhr

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