Benedikt Pliquett: Einst Derby-Held, nun Engel von St. Pauli
Vor zehn Jahren war Keeper Benedikt Pliquett der gefeierte Held beim 1:0-Sieg des FC St. Pauli im Stadtderby beim Hamburger SV. Nach Stationen in Österreich und Spanien beendete er seine Karriere und kehrte auf den Kiez zurück. Dort setzt er sich heute für bedürftige Menschen ein.
Es herrscht eine gespenstische Atmosphäre auf der angeblich sündigsten Meile der Welt. Die Reeperbahn sowie die Seitenstraßen des weltberühmten Hamburger Vergnügungsviertels sind seit Beginn des zweiten Lockdowns Mitte November des vergangenen Jahres wieder nahezu menschenleer. In vielen Fensterscheiben der geschlossenen Amüsierbetriebe hängen Zettel, die von der Verzweiflung der Betreiber zeugen. "Wir wollen unsere Gäste UND unser Leben zurück" oder "Wir Gastronomen waren nie die Super-Spreader" steht auf ihnen. Viele Geschäftsinhaber stehen nach einem Jahr Corona-Pandemie vor den Trümmern ihrer Existenz.
Ex-Keeper hat Straßenhilfe-Verein gegründet
Vor einigen geschlossenen Eingängen von Clubs und Bars liegen die Schlafsäcke derer, die bereits nichts mehr hatten, bevor das Virus die Welt veränderte: Obdachlose. Für sie hat sich die Lebenssituation durch den Shutdown noch einmal erheblich zugespitzt. "Sie leiden sehr unter den Einschränkungen der Pandemie. Es gibt jetzt hier eigentlich gar keine Leute mehr, die auf der Straße Geld spenden", erklärt Pliquett dem NDR.
Der frühere Fußball-Profi, der von 2004 bis 2013 beim FC St. Pauli unter Vertrag stand, engagiert sich für die Ärmsten der Armen. Im vergangenen Jahr gründete der Ex-Torwart gemeinsam mit einem Freund den Verein "Brüder Teresa Straßenhilfe e.V.", der Obdachlose und sozial benachteiligte Menschen im Stadtteil unterstützt.
Obdachlose von der Pandemie hart getroffen
Einmal pro Woche geben der 36-Jährige und seine Mitstreiter Suppe und Kleidung an Hilfsbedürftige aus. Zudem sind sie seit vier Wochen mit einem Kälte-Van unterwegs, um Obdachlose mit Heißgetränken und einer Mahlzeit zu versorgen. Obwohl die Stadt die Kapazitäten der Notunterkünfte erheblich erhöht hat, leben viele wohnungslose Menschen weiter auf "Platte", wie es in ihrem Jargon heißt. "Das Thema Corona ist da natürlich omnipräsent, weil dort so viele Leute auf einem Haufen sind. Es gibt zudem viele Menschen, die bewusst auf der Straße leben", sagt Pliquett.
Zuletzt hat der ehemalige Keeper, der nach seinem Abgang vom Kiezclub noch für Sturm Graz und Atlético Baleares auf Mallorca spielte, zwei Obdachlose für eine Zeit lang in einer leerstehenden Wohnung von ihm auf St. Pauli untergebracht. Die Menschen im Stadtteil liegen "Bene", wie Pliquett von Freunden gerufen wird, sehr am Herzen. Auch, weil er selbst hier lebt und arbeitet.
"Das Fußball-Geschäft war mir zuwider"
Bereits während seiner Profi-Zeit war dem 36-Jährigen die Nähe zu den Fans sehr wichtig. Zuweilen fuhr er mit ihnen von Auswärtsspielen mit dem Zug zurück nach Hamburg. Er engagierte sich auch politisch, sprach sich stets lautstark gegen Faschismus und jegliche Form von Intoleranz aus. Nach seinem Karriere-Ende kehrte Pliquett dem Fußball komplett den Rücken. "Ich habe aufgehört, weil mir das Fußball-Geschäft zuwider war", erklärt Pliquett, der fünf Bundesliga-Spiele und 21 Zweitliga-Partien für St. Pauli absolvierte.
Pliquett betreibt Sex-Boutiquen und eine Bar
Nachdem der Zwei-Meter-Mann unmittelbar nach seinem Laufbahn-Ende kurzzeitig in Spanien in der Immobilien-Branche tätig war, zog es ihn zurück auf den Kiez. Nicht, um dort für seinen FC St. Pauli zu arbeiten, sondern sich ein berufliches Standbein abseits des Fußballs aufzubauen. Es gelang. Heute betreibt der 36-Jährige gemeinsam mit seinem besten Freund drei Sex-Boutiquen ("Pliquett: "Wir verkaufen Unterhaltung für Erwachsene") und ist Inhaber einer Bar. "Ich bin glücklich. Es macht mir viel Freude und passt zu mir", sagt er.
Kneipe in Corona-Testzentrum umgewandelt
Doch der Lockdown hat Pliquett wie alle Einzelhändler und Gastronomen hart getroffen. Waren aus seinen Boutiquen kann er derzeit lediglich online oder per "Click and collect" verkaufen. Die Türen der "Alkotheke", wie seine Kneipe heißt, müssen für Vergnügungssüchtige geschlossen bleiben. Verriegelt ist der kleine Laden an der Ecke des Hans-Albers-Platzes jedoch nicht. Pliquett hat aus der Not eine Tugend gemacht und seine Bar in ein Corona-Testzentrum umgewandelt. Er bietet Antigen-Tests an. "Meine Intention war es, einen Beitrag zur Bekämpfung der Pandemie zu leisten", erklärt der Ex-Keeper.
Obdachlose und sozial benachteiligte Menschen erhalten den Test von Pliquett gratis. "90 Prozent der Leute, die zu uns kommen, machen präventive Tests. Sie wollen jemanden wiedersehen, ihre Verwandten treffen oder ihre Kinder zu Oma und Opa bringen", erzählt Pliquett. Er erwägt, auch die Gratis-Selbsttests, die nun auf den Markt kommen, in seiner umgewandelten Bar anzubieten: "Da gab es auch schon erste Gespräche mit der Sozialbehörde."
Pliquett fiebert mit St.-Pauli-Coach Schultz mit
Vom Torwart zum umtriebigen Geschäftsmann und "Engel von St. Pauli" für Obdachlose - da bleibt nicht allzu viel Zeit, sich intensiv mit dem Fußball zu beschäftigen. Aber die Entwicklung bei seinem Ex-Club verfolgt Pliquett natürlich weiter genau, da in Timo Schultz nun ein früherer Mitspieler von ihm Trainer beim Zweitligisten ist. "Ich freue mich unheimlich für ihn und fiebere mit ihm mit", sagt der 36-Jährige.
Schultz und Pliquett gehörten zu der Mannschaft, die 2010 unter Coach Holger Stanislawski in die Bundesliga aufstieg. "Wir hatten einen einzigartigen Zusammenhalt", erzählt der ehemalige Keeper: "Noch heute haben wir eine WhatsApp-Gruppe mit 23 Leuten, in der wir regelmäßig schreiben."
Heldenstatus nach Sieg im Stadtderby 2011
In diesen Tagen ist dort gewiss wieder einmal der 16. Februar 2011 ein großes Thema, zumal am Montagabend (20.30 Uhr, im Livecenter bei NDR.de) ja erneut das Stadtduell auf dem Programm steht. Damals gewann St. Pauli das Derby beim HSV durch einen Treffer von Gerald Asamoah überraschend mit 1:0. Neben dem Torschützen erlangte Pliquett Heldenstatus. Der baumlange Schlussmann hielt gegen den Club, der ihn 2004 von heute auf morgen ohne Begründung aussortiert hatte, den Sieg fest. "Es war ein wunderschöner und besonderer Tag. Gerade für die Fans war es das Größte, deswegen hat es mich so gefreut", sagt Pliquett.
Dem Triumph im Volksparkstadion folgte eine feucht-fröhliche Nacht auf dem Kiez. Unbeschwert wurde der Sieg dort gefeiert, wo heute gespenstische Stille herrscht. Dass sich daran sobald etwas ändert, glaubt Pliquett nicht: "Normalität wird es auch 2021 auf St. Pauli nicht geben".