Radikalisierung: Welchen Einfluss hat der Islam?
Die salafistische und dschihadistische Szene wächst - auch in Niedersachsen hat sie sich in wenigen Jahren mehr als verdoppelt. Über die Ursachen der Radikalisierung von Jugendlichen wird viel diskutiert. Wissenschaftler der Universitäten Osnabrück und Bielefeld wollen nun untersuchen, welche Rolle die Religion dabei spielt. Einer der Forscher ist Michael Kiefer, Islamwissenschaftler am Institut für Islamische Theologie der Uni Osnabrück.
Von Michael Kiefer
Der gewaltbereite Salafismus ist eine große Herausforderung. Wer diesen präventiv verhindern will, braucht vor allem eines: Wissen. In der noch jungen präventiven Praxis in Deutschland sind derzeit noch deutliche Defizite zu beklagen. Diese betreffen insbesondere genaue Kenntnisse über den Verlauf von Radikalisierungsprozessen und die Faktoren, die diese begünstigen oder hervorrufen. Der Forschungsstand ist uneinheitlich.
Der US-amerikanische Psychologe Randy Borum zum Beispiel beschreibt Radikalisierung als einen vierstufigen linearen Prozess, der von der Beschwerde bis zur Distanzierung und Abwertung führt. Ein anderes Modell vertritt die Forscherin Zeyno Baran. Sie vergleicht den Radikalisierungsprozess mit einem Fließband, auf dem verschiedene Elemente, Einflüsse und Ereignisse Schritt für Schritt hinzukommen. Eine ähnliche Auffassung vertreten auch die Bielefelder Gewaltforscher Nils Böckler und Andreas Zick. Radikalisierung ist für sie ein sozialer Prozess, der zu einer extremen Polarisierung von Gefühlen, Überzeugungen und Verhaltensweisen führt.
Radikalisierung des Islam oder Islamisierung der Gewalt?
Doch damit ist längst noch nicht erklärt, wie junge Menschen zu Dschihadisten werden. Und genau an dieser Stelle wird es kompliziert. So vielfältig nämlich die positiven Entfaltungsmöglichkeiten für Jugendliche in einer modernen Gesellschaft sein mögen, so vielfältig kann auch ihr Abrutschen in Radikalität, Gewalt und Terror erfolgen. In der Forschung spricht man von multifaktoriell beeinflussten Prozessen. Zu den Faktoren gerechnet werden unter anderem Attraktivitätsmomente der salafistischen Ideologie, jugendphasentypische Aspekte wie Auflehnung und Rebellion, Krisen, Diskriminierungserfahrungen, objektive Konfliktlagen und schließlich auch die Religion.
Insbesondere zum letzten Punkt gibt es in der Forschung eine mit viel Verve geführte Debatte. Im Fokus steht die Frage, welche Rolle "der Islam" in eben diesen Radikalisierungsprozessen spielt. Pointiert wird die Debatte insbesondere in Frankreich geführt. Der Diplomat und Politologe Olivier Roy spricht von einer "Islamisierung der Radikalität". Als Beleg verweist er auf die Lebensführung von französischen Dschihadisten. Diese sei insbesondere gekennzeichnet von Drogenkonsum und Kriminalität. Eine entgegengesetzte Position vertritt Gilles Kepel. Der Soziologe ist überzeugt: Die muslimischen Milieus seien Gegenstand einer umfassenden Islamisierung. Ein Effekt davon sei das Erstarken dschihadistischer Gruppen in Europa. Im Kern geht es also bei der Präventionsarbeit auch um die Frage: Erleben wir derzeit eine Radikalisierung des Islam oder vielmehr eine Islamisierung der Gewalt? Wer oder was bedingt eigentlich wen und wozu?
Moscheegemeinden als Partner?
Für die Praxis der Radikalisierungsprävention hat diese Auseinandersetzung eine große Bedeutung. Denn es geht zum Beispiel um die Frage, ob man die Moscheegemeinden als Partner in der Prävention benötigt und wenn ja, was sie konkret tun können.
Denn noch ist nicht geklärt, ob zum Beispiel junge Muslime aufgrund ihrer religiösen Orientierung erst empfänglich werden für radikale Botschaften, oder aber ob Radikalisierung und Indoktrination gerade durch religiöses Wissen und vertraute Rituale verhindert werden können. Die Forschungsergebnisse, die in knapp zwei Jahren vorliegen, können eine wichtigen Beitrag für die Präventionsarbeit in Deutschland und Europa liefern.