Zu Gast bei einem Sederabend in Kiel
Ein Geruch von Kerzen und Petersilie erfüllt den Raum. An zwei langen Tafeln sitzen etwa 50 Menschen. Es wird gekichert, und schelmische Blicke werden ausgetauscht. Doch kein Wort kommt über die Lippen. Viktoria Ladyshenski klopft ihrem Tischnachbarn auf die Schulter, um seine Aufmerksamkeit zu bekommen. Dann gibt sie ihm mit Gesten zu verstehen, dass sie einen Schlüssel haben will. Der Mann scheint zu wissen, welchen Schlüssel sie möchte und holt ihn mit einem Grinsen aus seiner Hosentasche. Ladyshenski nimmt ihn an sich, greift mit der anderen Hand über den Tisch und nimmt ein in eine Serviette gehülltes Stück Brot vom Teller des Kantors. Dann verschwindet sie aus dem Raum und kommt kurz darauf mit leeren Händen zurück.
Gottesdienst läutet Auftakt zum Pessach-Fest ein
Diese Szene spielt sich beim Sederabend in der jüdischen Gemeinde in Kiel ab. Der Abend bildet den Auftakt zum Pessach, einem der wichtigsten jüdischen Feste. Gefeiert wird über zehn Tage hinweg zur Erinnerung an den Auszug des Volkes Israel aus Ägypten. Hinter einer blauen Tür in der Wikingerstraße in Gaarden beginnt der Abend mit einem Gottesdienst in der kleinen Synagoge. Der kleine Raum ist durch einen Vorhang in zwei Hälften geteilt. Vorne sitzen die Männer, hinten die Frauen. Der Kantor steht vorne, mit dem Rücken zur Gemeinde und betet vor - auf Hebräisch. Dann und wann antwortet die Gemeinde mit einem "Amen". Jeder hält ein dickes Gebetsbuch in der Hand. Die Seiten werden angesagt, geblättert wird von links nach rechts.
Zwei Wochen für die Vorbereitung
Nach dem Gottesdienst geht es für alle in den ersten Stock zum Gemeinschaftssaal. Ladyshensky grüßt nach allen Seiten. Als alle in den Saal strömen, achtet die Geschäftsführerin darauf, dass jeder einen Platz bekommt. Der Tisch ist bereits liebevoll eingedeckt. Zwei Wochen haben die Vorbereitungen für Pessach gedauert, erzählt Ladyshensky. Gemeinsam haben alle das Gemeindehaus von oben bis unten geschrubbt. Die Töpfe wurden aufwendig gereinigt, neues Geschirr gekauft und das Essen gekocht – alles streng nach Vorschrift. An den ersten und letzten beiden Tagen des Festes darf nichts getan werden. Nicht einmal das Licht darf an- oder ausgeschaltet werden. Alles bleibt so, wie es vor Anbruch der Dunkelheit am Sederabend vorbereitet ist. Auch fotografieren oder Notizen machen ist weder für Mitglieder noch Gäste erlaubt. Doch trotz der vielen Regeln und der Jahrtausende alten Tradition, ist die Stimmung nicht im geringsten steif. Es gibt Wein - und immer wieder rufen sich die Gäste "Le'chájim" - zum Wohl - zu.
Jedes Gericht hat eine Bedeutung
Links neben jedem Gedeck steht ein weiterer kleiner Teller, auf dem kleine Häppchen angerichtet sind: ein Stück Kartoffel, ein halbes Ei, roter Meerrettich auf einem Salatblatt, ein Radieschen, Petersilie und ein Apfelmus mit Rosinen und Nüssen. In der Mitte des Tisches stehen Schälchen mit Salzwasser, Wein und ungesäuerte Brote, sogenannte Mazzen. Jede Speise hat eine spezielle Bedeutung. Gegessen und getrunken wird in einer bestimmten Abfolge und jeweils nach links gelehnt. Das steht dafür, dass sie nun keine Sklaven mehr sind, sondern freie Menschen, die - zu der Zeit der Sklaverei - auf der linken Seite liegend gegessen haben. Verschiedene Gemeindemitglieder lesen im Wechsel aus der Haggada vor, in der der Ablauf des Abends beschrieben wird. Jemand erzählt die Geschichte vom Auszug aus Ägypten - andere Gemeindemitglieder stellen Fragen, warum man feiert, wie man feiert.
Traditionen neu zum Leben erwecken
Eine Frau auf der anderen Seite des Tisches dreht das Radieschen von ihrem Teller an seiner Wurzel zwischen zwei Fingern. "Darf man das jetzt schon essen?", fragt sie ihren Mann. Obwohl der Altersdurchschnitt bei etwa 60 Jahren liegen dürfte, scheinen viele den Ablauf des Abends nicht gut zu kennen. Immer wieder greift Ladyshensky ein, wenn jemand eine Speise schon vor dem richtigen Zeitpunkt essen möchte. "Eigentlich ist der Sederabend ein Familienabend", erklärt sie. Doch viele der Mitglieder stammen aus der ehemaligen Sowjetunion. Dort war ihnen die Ausübung ihrer Religion verboten, und so sind die Traditionen noch nicht wieder fest verankert. Deshalb feiert die jüdische Gemeinde gemeinsam, damit die Mitglieder die Abläufe wieder erlernen können.
Brot gegen Geschenke
"In der Familie meiner Tochter wird alles noch ausführlicher gemacht: Mit Spielfiguren veranschaulicht mein Schwiegersohn den Kindern die zehn Plagen und den Auszug der Israeliten aus Ägypten. Hier machen wir alles kürzer, weil viele der Mitglieder schon etwas älter sind", erklärt Ladyshensky. Doch nicht alles wird gekürzt. Bevor der Kantor vom traditionellen Händewaschen zurückkommt, um das Schweigen zwischen Händewaschen und dem Essen der Mazzen zu brechen, stibitzt Ladyshensky ein Stück Mazzen und versteckt es. Dieses Stück sollte es zum Nachtisch geben, und solange der Kantor es nicht auslöst, kann der Abend nicht beendet werden. Nachdem auch der Kuchen als letzter Gang serviert ist, beginnen die Verhandlungen. Zuerst bietet der Kantor seinen Dank an, doch das reicht Ladyshensky nicht. "Verlange ein neues Auto", wirft ein Mann lachend ein. Doch am Ende einigen sie sich auf eine Packung Mazzen im Tausch gegen das versteckte Stück. So kann der Abend langsam ausklingen, bis sich auch der Letzte auf den Heimweg macht. Das Licht allerdings bleibt erst mal an.