Zeitreise: "Vor aller Augen" - eine klinische Bildersammlung
Wie sah eigentlich die Krankenversorgung im 19. Jahrhundert aus? In Kiel sind Zeichnungen aus der Sammlung des Mediziners Friedrich Esmarch zu sehen. Wer genau hinschaut, kann auch immer wieder den Mensch hinter der Krankheit entdecken und letztendlich sogar einen Eindruck von der Gesellschaft im Kaiserreich bekommen.
Der kleine Fritz Rörden aus Nieblum auf Föhr wurde mit einer Kiefer-Lippen-Gaumen-Spalte geboren. Bis ins 20. Jahrhundert hinein bezeichnete man diese Fehlbildung als Hasenscharte oder Wolfsrachen. Diese Tiervergleiche verletzten die Würde der Betroffenen. Es gab beispielsweise die abergläubische Vorstellung, dass, wenn Schwangere an Hasen dächten, das zu einer Fehlbildung führen würde.
Der kleine Fritz wäre vermutlich sein Leben lang gehänselt und verspottet worden, wenn seine Eltern nicht die beschwerliche Reise von Föhr nach Kiel angetreten hätten. Dort baten sie den berühmten Mediziner und Universitätsprofessor Friedrich Esmarch um Hilfe. Friedrich Esmarch operierte den kleinen Fritz, machte kosmetische Korrekturen. In mehreren Operationen schloss er die Spalte, bis nur noch eine kleine Narbe zu sehen war. Im Gegenzug wurde Fritz, wie andere Patienten auch, über mehrere Jahre hinweg von einem Künstler für die Sammlung des Professors gezeichnet. Esmarch trug so mehr als eintausend Zeichnungen von Patienten zusammen.
Ausstellung in Kiel
Zu sehen ist eine Auswahl dieser Zeichnungen in einer Ausstellung der Medizinischen Sammlung der Universität in Kiel. Sie geben einen Einblick in die chirurgische Behandlung der Bevölkerung des 19. Jahrhunderts. Die Kuratorin der Ausstellung, Eva Fuhry, ist begeistert, dass sich hier auch individuelle Porträts von Tagelöhnern und Arbeitern finden - von Menschen, von denen es sonst meist keine Zeugnisse gibt, weil sie vor lauter Arbeit gar keine Zeit hatten, Tagebuch zu führen oder zu schreiben.
Esmarch behandelte seine Patienten gratis. Im Gegenzug mussten sie einwilligen, im Hörsaal vor Studenten operiert und gezeichnet zu werden. Auf jeder Zeichnung gab es zudem einen Hinweis auf die Krankenakte des Porträtierten - mit Angaben zu Beruf und sozialem Milieu des Patienten.
Zeichnungen für Kollegen und Studenten
Friedrich Esmarch hatte nicht vor, die Zeichnungen einer breiten Öffentlichkeit zu zeigen. Sie dienten eher als Anschauungsmaterial für Studenten und Kollegen. Er forderte sie damit beispielsweise auf, nicht zu lange zu warten, Patienten zu ihm zu schicken - vor allem, wenn es sich um schwierige Fälle handelte. Denn auch Esmarch konnte irgendwann nichts mehr für einen chronisch Kranken tun. Er wies zudem immer wieder darauf hin, wie wichtig es ist, dass Ärzte das Vertrauen ihrer Patienten gewinnen, damit die keine Symptome verheimlichen.
Individualität der Porträtierten
Die Ausstellung zeigt Porträts kranker Menschen. Manche von ihnen sind so entstellt, dass es schwerfällt, die Zeichnungen zu betrachten. Die Bilder lassen erahnen, was die Menschen durchmachen mussten. Doch die Individualität jedes einzelnen ist etwas ganz Besonderes.
Übrigens: Fritz Rörden ist auf Föhr später Schneider geworden. Auf einem Bild des Malers Fritz Cohrs ist er mit 76 Jahren abgebildet. Eine Chronik erzählt, dass er eine besonders laute, "trompetenhafte" Stimme, gehabt haben soll. Gut möglich, dass das eine Folge der Gaumenspalte war. Sie ist auch jetzt noch zu sehen, in der Ausstellung in Kiel.