Verschickungskinder in SH: Studie bestätigt grausamen Umgang

Stand: 09.04.2024 17:53 Uhr

Das Schicksal der sogenannten Verschickungskinder beschäftigt die Menschen in Schleswig-Holstein seit vielen Jahren. Das Rote Kreuz hat für die Aufarbeitung der eigenen Rolle eine wissenschaftliche Studie beauftragt und die Ergebnisse jetzt vorgestellt.

von Pia Klaus

Sie wurden zum Essen gezwungen, vor anderen bloßgestellt, wenn sie sich beispielsweise eingenässt hatten und wurden teilweise stundenlang allein in Räume ohne Fenster gesperrt. Für schätzungsweise acht Millionen Kinder gehörte das zwischen den 1950ern bis in die 1980er Jahre zum Alltag in sogenannten Kindererholungsheimen. Seit vielen Jahren beschäftigt das Schicksal dieser Verschickungskinder die Menschen, auch über schleswig-holsteinische Landesgrenzen hinaus.

Zahlreiche Träger und Institutionen sind jetzt darum bemüht, aufzuarbeiten, wer für die Gewalt in den Kindererholungsheimen verantwortlich war. Der schleswig-holsteinische Landesverband des Deutschen Roten Kreuzes hat dafür eine Sozialwissenschaftlerin der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel beauftragt. Denn auch der Verband war Träger mehrerer Kindererholungsheime, vor allem im Kreis Nordfriesland: In Sankt Peter-Ording, in Wittdün auf Amrum und in Nieblum auf Föhr. Weitere Heime waren in Glücksburg (Kreis Schleswig-Flensburg) und in Burg auf Fehmarn (Kreis Ostholstein). Die Ergebnisse der wissenschaftlichen Studie wurden am Dienstag vorgestellt.

Autorin sichtet mehrere Tausend Seiten

Für ihre wissenschaftliche Arbeit hat Leonie Umlauft in Archivmaterial recherchiert und mit Betroffenen Interviews geführt. "Alle ehemaligen Kinder haben davon berichtet, dass es bis heute Auswirkungen hat. Sie wollen nicht mit mehreren Personen in einem Zimmer schlafen oder möchten auf gar keinen Fall im Erwachsenenalter nochmal zur Kur fahren. Manche haben auch nach wie vor ein gestörtes Essverhalten", berichtet die Sozialwissenschaftlerin. Die Interviews haben allerdings gezeigt, dass es auch positive Erinnerungen an die Zeit gebe. So sei eine starke Gemeinschaft entstanden und Freundschaften, die bis heute bestehen. Bei vielen überwiegen jedoch die negativen und teilweise auch traumatisierenden Erfahrungen.

Hochphase zwischen den 1950er und 1970er Jahren

Sozialwissenschaftlerin und Verbandssprecherin bei Pressekoknferenz © NDR
Leonie Umlauft hat sich im Rahmen ihrer Masterarbeit mit der Rolle des DRK-Landesverbandes im Bereich der Kindererholung beschäftigt.

Das DRK Schleswig-Holstein war zwischen 1945 und 1990 Träger von fünf Kindererholungs- und Kinderkurheimen in Schleswig-Holstein. Die Hochphase der Kindererholung war laut der Studie zwischen den 1950er und 1970er Jahren. Die Idee: Waisen des zweiten Weltkriegs, Kinder von Kriegsversehrten und Kinder aus Westberlin, die von der Teilung Deutschlands besonders betroffen waren, sollten sich auf Kuren in Schleswig-Holstein erholen. Auch Kinder mit Atemwegs- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen sowie mit Behinderungen wurden in die Einrichtungen geschickt. "Die Intention hinter den Kindererholungen und Kinderkuren war eine gute - in der Umsetzung wurden jedoch die kindlichen Bedürfnisse oftmals komplett missachtet", so die Sozialwissenschaftlerin. 

Ein Ergebnis der Studie: Vor allem die strengen Hierarchien hätten in den Heimen zu Gewalt geführt. Dadurch sei struktureller Gehorsam entstanden, der Kinder und Personal immer mehr voneinander distanziert habe. An allen fünf Standorten sei es so zu psychischer Gewalt gekommen. Zum Beispiel durch Strafandrohungen, durch das Bloßstellen von Kindern, die geweint oder sich eingenässt hatten und durch die Verbreitung von Angst. Im Kindererholungsheim Glücksburg habe es zusätzlich auch physische Gewalt gegeben. Dort seien Kinder immer wieder eingesperrt worden.

DRK: Studie wichtiger Schritt für die Aufarbeitung

Für Anette Langner, Vorstandssprecherin des DRK-Landesverbands, ist die Studie auch eine Handlungsaufforderung: "Aus unserer Sicht markiert diese Studie einen wichtigen Schritt in der Aufarbeitung der Kindererholung durch das DRK in Schleswig-Holstein. Sie liefert nicht nur einen Überblick über die Heime in der Verantwortung zwischen 1945 und 1990, sondern trägt auch dazu bei, das Bewusstsein für die erlebte Gewalt zu schärfen und zukünftige Forschungen in diesem Bereich anzustoßen." Sie verweist auf eine weitere bundesweite Studie, die Langner zufolge das Deutsche Rote Kreuz zusammen mit der Deutschen Rentenversicherung in Auftrag gegeben habe. Die sei aktuell in der Ausarbeitung und bewerte unter anderem auch juristische Konsequenzen für die Verantwortlichen.

In ihrem Fazit fordert Sozialwissenschaftlerin Umlauft dazu auf, den Blick auch auf die Richtlinien und Gesetze des Landes in Sachen Kindererholung zu lenken und auch die Rolle der Kurveranstalter - also Versicherungen, Krankenkassen und Unternehmen aufzuarbeiten. Die Strukturen in den Einrichtungen seien mit den Bedürfnissen der Kinder nach Geborgenheit, Anerkennung und Wertschätzung kollidiert. Sie empfiehlt dem Landesverband des Roten Kreuzes jetzt eine spezifischere, regionale Aufarbeitung, vor allem für die einzelnen Einrichtungen. Außerdem plädiert Umlauft dafür, eine Anlaufstelle für Betroffene zu schaffen.

Weitere Informationen
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Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Welle Nord | Nachrichten für Schleswig-Holstein | 09.04.2024 | 15:00 Uhr

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