Tickende Zeitbomben in der Ostsee: Pilotprojekt geht Munitionsbergung an
Auf dem Grund der Ostsee liegen schätzungsweise 300.000 Tonnen Munition aus dem Zweiten Weltkrieg, die vor sich hinrotten - tickende Zeitbomben. Allein in der Lübecker Bucht sind es 50.000 Tonnen. Erste Teile werden nun in einem Pilotprojekt geborgen.
Es ist für sie ein Einsatz wie viele andere. Eigentlich Routine, sollte man meinen. Und dennoch ist dieser Auftrag für Oliver Krohn und Jan Leidorf ein ganz Besonderer, sagen sie. Beide sind Teil des Pilotprojekts zur Bergung der ersten Kampfmittel aus dem Zweiten Weltkrieg. Die beiden arbeiten für die Firma Eggers, die vor Pelzerhaken (Kreis Ostholstein) Bomben sondiert und sortiert. Das Ganze geschieht von einer Arbeitsplattform aus. Krohn und Leidorf sitzen dort im Kommandostand, am höchsten Punkt der Plattform, vor ihnen vier Monitore. Räumstellenleiter Jan Leidorf gibt von hier aus dem Baggerfahrer Anweisungen, wie er den langen Arm mit dem Greifer positionieren soll. Jede Bewegung wird mit verschiedenen Kameras live übertragen. "Unten am Grund haben wir dann die Möglichkeit, jede einzelne Bombe unter anderem mit einem Sonargerät genau zu untersuchen. Das ist wie ein Ultraschall beim Arzt, wir können alles genau erkennen", erzählt Feuerwerker Oliver Krohn. In diesem Augenblick hat er eine Bombe auf seinem Monitor, bei der er keinen Zünder sehen kann. Sie ist erstmal nicht gefährlich.
Bomben werden in Container verpackt
Vor Pelzerhaken liegt die Munition in etwa 20 Metern Tiefe. Obwohl die Gebiete in den vergangenen Jahren alle kartiert wurden und somit bekannt sind, muss jede einzelne Bombe nochmal identifiziert und klassifiziert werden. Dabei kommt auch ein Tauchroboter zum Einsatz, der mit einer KI-Kamera ausgerüstet ist. Zusätzlich werden auch immer wieder Taucher zur Unterstützung eingesetzt. Etwa dann, wenn die Bomben in die drei Kubikmeter großen Container am Meeresgrund verladen werden. Sie nennen es "das Nasslager". Pro Container dürfen die Experten 300 Kilogramm Nettoexplosionsmasse, kurz NEM, verladen. "Wenn der Container beladen ist, verschließen wir ihn wasserdicht, damit keine umweltschädlichen Stoffe der Bomben mehr austreten können", erklärt Norman Günzlein, Geschäftsführer von Hansataucher. Das Verfahren haben sie selbst entwickelt und sich dabei Anregungen auch von der Landwirtschaft geholt. Jeder Container wird mit Daten hinterlegt, um die genaue Menge zu bestimmen, die bereits unschädlich gemacht wurde.
Geschossmunition wird per Hand sortiert
Ein paar Kilometer weiter, direkt vor Haffkrug (Kreis Ostholstein), liegt eine weitere Arbeitsplattform, denn auch hier liegen viele Tonnen Munition. Im Gegensatz zu Pelzerhaken ist es in diesem Gebiet Geschossmunition. Verpackt in Holzkisten, die zum Großteil noch sehr gut erhalten sind. 5.840 Kilogramm haben sie hier schon geborgen. Auch hier wird ein videoüberwachter Greifarm unter Wasser geschickt, um die Kisten zu bergen. An Bord werden sie dann von zwei Mitarbeitern der Firma Teaterra per Hand sortiert und dokumentiert. Einer von ihnen ist Michael Scheffler, Kampfmittelbeseitiger seit 42 Jahren: "Wir haben hier Patronen mit zwei Zentimeter Durchmesser, das war Munition der Deutschen. Sie wurden zur Flugabwehr mit Kanonen verwendet", erklärt Scheffler. Bei seiner Arbeit sei höchste Vorsicht geboten, weil nicht nur die Stoffe der Munition, sondern auch die der alten Holzkisten sehr schädlich sein können. Die geborgene Munition wird dann in Stahlröhren verpackt, luftdicht verschlossen und wie in Pelzerhaken auch ins Nasslager unter Wasser gelegt.
Endgültige Vernichtung noch nicht geklärt
Bislang ist die erste Bergung ein Pilotprojekt, angesetzt auf 30 Tage Einsatz. Kostenpunkt: etwa 25 Millionen Euro. In diesem Projekt wollen die Beteiligten Daten sammeln, Abläufe entwickeln und vor allem dazulernen. Denn die Bergung solcher Massen ist für alle neu. Nach ersten Erkenntnissen liegt auch noch mehr Munition in der Lübecker Bucht als bisher angenommen. "Die Aufgabe ist deutlich komplexer als wir gedacht haben. Wir müssen die Entwicklung der ersten Pilotphase genau beobachten und gewisse Prozesse verbessern. Bis jetzt sind wir aber schon sehr gut davor", sagt Wolfgang Sichermann von der Firma Seascape, die für die Auftragsvergabe der einzelnen Bergungsarbeiten zuständig ist. Noch nicht geklärt ist die endgültige Vernichtung der Kampfmittel. Dazu läuft aktuell eine Ausschreibung. Geplant ist, dass die Munition auf dem Meer in einer Spezialanlage verbrannt werden soll. Wolfgang Sichermann geht davon aus, dass das nach allen Vergabefristen und Verhandlungsphasen frühestens 2026 losgehen wird.