Missbrauchsprozess in Itzehoe: Mütter des Opfers sagen aus
86-facher sexueller Missbrauch: Am Landgericht in Itzehoe haben am Dienstag die Mütter des Opfers ausgesagt. Sechs Jahre lang fielen die mutmaßlichen Taten des 48-Jährigen aus Tornesch nicht auf - laut Experten sei das keine Seltenheit.
Er war ein guter Freund der Familie. Kennengelernt haben Tochter und eine der beiden Mütter den mutmaßlichen Täter in einer Mutter-Kind-Einrichtung, so die Mutter bei der Zeugenbefragung am Landgericht Itzehoe (Kreis Steinburg). In einer schweren Zeit war Tim K. aus Tornesch (Kreis Pinneberg) für die Familie da, genoss bald so viel Vertrauen, dass er regelmäßig auf die Tochter aufpassen durfte. In diesen Zeiten soll laut Staatsanwaltschaft der Missbrauch stattgefunden haben. Demnach habe der Angeklagte dies selbst auf Videos dokumentiert.
Dass nichts auffällt, ist oft die Regel
Das Mädchen war bei Beginn der Taten gerade einmal drei Jahre alt. Den Müttern des Kindes fiel in den folgenden Jahren des Missbrauchs nichts auf, das Anlass zur Sorge gegeben hätte. Der Angeklagte betreute das Kind regelmäßig, da die Eltern sich ehrenamtlich engagieren. "Sie war fröhlich, wenn sie von den Wochenenden bei ihm nach Hause kam", so eine der Mütter im Prozess unter Tränen. Die einzige Auffälligkeit sei kurz nach einem Trauerfall aufgetreten. Der Kinderarzt wurde besucht, auch hier die Aussage: Kein Grund zur Sorge.
Dass sexueller Missbrauch von Kindern im engsten Umfeld jahrelang nicht bemerkt wird, sei keine Seltenheit, sagt Bernd Priebe. Er ist Tätertherapeut beim Elmshorner Verein "Wendepunkt": "Das hängt mit vielen Faktoren zusammen. Pauschale Anzeichen gibt es nicht. Aber: Wer sein Kind möglichst gut vorbereiten will, der muss ihm beibringen, deutlich 'Nein' zu sagen - besonders zu Erwachsenen." Gemeint ist damit auch vermeintlich Banales. Der unliebsame Bussi von der Oma, das ungewollte Hochheben durch einen Onkel - wer seinem Kind beibringe Grenzüberschreitungen zu benennen und abzulehnen, der bereite es auch auf extremere Situationen vor, so Priebe.
Missbrauch über Jahre keine Seltenheit
Auffällig ist in dem in Itzehoe verhandelten Fall für Außenstehende vielleicht auch die lange Dauer. Vom dritten bis zum neunten Lebensjahr soll der Angeklagte immer wieder Missbrauchshandlungen an und mit dem Mädchen durchgeführt haben. Für Bernd Priebe hingegen ist das wenig überraschend. "Wahrscheinlich kannte das Kind es ja nicht anders. Und man muss dabei bedenken: Die Täter sind oft emotional sehr nah an ihren Opfern, manipulieren sie, haben ein gemeinsames 'Geheimnis'." Auch bauen Täter Druck aus, so Priebe, indem sie zum Beispiel ihren Opfern sagen: "Wenn du das verrätst, muss ich ins Gefängnis." Zeitgleich wirke der Täter wegen der emotionalen Nähe auf das Kind nicht wie ein Monster, so der Therapeut.
Auch das trifft auf den in Itzehoe verhandelten Fall wohl zu. Denn während der eigene Vater laut Mutter "nichts von seinem Kind wissen wollte", war der mutmaßliche Missbrauchstäter da. Er kaufte Spielzeug, machte Ausflüge mit seinem Opfer - war Bezugsperson.
Für besseren Schutz: Enttabuisierung des Körpers
Kinder seien oft vorsichtig damit, was sie Erwachsenen erzählten. "Die schauen erstmal, wie wird da reagiert, wenn man über den Körper spricht. Kann ich mich anvertrauen oder wird mit Scham reagiert?", schildert Priebe. Erfahrungen hätten gezeigt, dass Kinder sich oft mehrmals an Erwachsene wenden müssten, bevor sie gehört werden. Geschlechtsteile klar zu benennen und Kindern zu signalisieren: "Du kannst uns alles fragen und mit uns über alles reden", sei ein wichtiger Baustein um Selbstbewusstsein zu schaffen, meint der Therapeut. Die Kenntnis des eigenen Körpers sollte nicht bei "da unten" belassen werden.
Um möglichen Missbrauch deutlich unwahrscheinlicher zu machen, hilft es laut Priebe, seine Kinder zu einem selbstbewussten Umgang mit ihrem Körper und ihrer Sexualität zu erziehen. "Das Tabu, dass Kinder bis zur Pubertät völlig asexuell sind, muss weg. Eltern müssen Fragen beantworten und offen sein. Auch dabei, darüber zu sprechen, wann man etwas nicht möchte."
Denn wenn Kinder sich in allen Fragen wahrgenommen und gehört fühlten, steige die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich mitteilen. Und etwaigen Missbrauch auch in jungem Alter als solchen wahrnehmen und benennen könnten. Und trotzdem, Priebe sagt: "Eine hundertprozentige Sicherheit, eine Checkliste mit Warnsignalen - das gibt es leider einfach nicht."
Urteil wird im Oktober erwartet
Auch bei einem weiteren Mädchen soll der mutmaßliche Täter laut Anklage in einem Fall übergriffig geworden sein. Bei der Durchsuchung seiner Wohnung in Tornesch Anfang 2023 fanden die Beamtinnen und Beamten zudem über 300.000 Bilder und Videos von sexuellem Missbrauch, die der Angeklagte aus dem Internet haben soll. Am Freitag wird die Verhandlung mit Einsicht in die Beweismittel fortgesetzt. Zum Schutz der Opfer ist die Öffentlichkeit bei diesem Termin ausgeschlossen. Ein Urteil wird Anfang Oktober erwartet. Bei einem Schuldspruch erwarten den Angeklagten bis zu zehn Jahre Haft.