Lesekompetenz: Warum viele Schüler im Norden schlecht lesen

Stand: 31.01.2025 15:53 Uhr

Das Zeugnis ist da, damit bei vielen auch der Frust: Jeder vierte Drittklässler in Schleswig-Holstein liest schlecht, hat eine schlechte Note in Deutsch. Vor einigen Jahren waren es noch deutlich weniger.

von Hannah Böhme

Ulla Kölbel ist seit 20 Jahren Deutsch- und Musiklehrerin an der Gemeinschaftsschule Ossenmoorpark in Norderstedt (Kreis Segeberg). Eine Schule in einem "Quartier mit Herausforderungen", heißt es auf der Internetseite. 500 Kinder und Jugendliche besuchen hier die Klassenstufen fünf bis zehn. Und: Viele von ihnen haben große Probleme beim Lesen, berichtet Ulla Kölbel. Und das, obwohl an der Schule in den vergangenen Jahren schon zahlreiche Methoden etabliert wurden, um die Kinder zu unterstützen. "Wir haben gemerkt, es reicht trotzdem nicht", so die 49-Jährige.

Schulen vor Herausforderungen: Lesefähigkeit ist schlecht

Mit diesen Herausforderungen steht die Gemeinschaftsschule in Norderstedt nicht alleine da. Vergleichsarbeiten, die jedes Schuljahr in den dritten Klassen in Schleswig-Holstein stattfinden, zeigen, dass etwa jedes vierte Kind in Klasse drei inzwischen zur schwächsten Lesegruppe gehört. Zum Vergleich: Noch vor einigen Jahren gehörte nicht mal jedes zehnte Kind zu dieser Gruppe. Und die Vergleichsarbeiten zeigen auch, dass die Gruppe der Kinder mit sehr guten Lesefähigkeiten in den vergangenen Jahren deutlich kleiner geworden ist.

Kinder können Defizite oft nicht aufholen

Prof. Olaf Köller vom Bildungsforschungsinstitut IPN der Uni Kiel blickt in die Kamera bei einem Interview. © NDR
Bildungsexperte Prof. Olaf Köller warnt vor den langfristigen Folgen der Lese-Defizite.

Das Problem erläutert das Institut für Qualitätsentwicklung an Schulen Schleswig-Holstein: Kinder, die in der dritten Klasse zur schwächsten Lesegruppe gehören, haben es schwer, diese Defizite bis zum Ende ihrer Grundschulzeit aufzuholen. Damit sie die Chance dazu haben, müsse man ein besonderes Augenmerk auf diese Kinder werfen, heißt es vom IQSH. Passiert das nicht, wechseln diese Schülerinnen und Schüler im Zweifel also an weiterführende Schulen, ohne Texte flüssig lesen und verstehen zu können. Und lernen hier nach Angaben des Bildungsexperten Professor Olaf Köller von der Christian-Albrechts-Universität in Kiel bis zur neunten Klasse oft nur noch wenig dazu. "Auch hier kann etwa ein Viertel der Schülerinnen und Schüler mit 15 Jahren Texte nicht verstehend lesen", berichtet Köller. Und wer das nicht kann, muss nicht nur im Deutschunterricht kämpfen.

Gute Noten hängen von Lesefähigkeiten ab

Ob die Namen der Skelettknochen im Biologiebuch oder die Textaufgabe im Matheunterricht: Im Stundenplan finden sich kaum Fächer, in denen gute Noten der Schülerinnen und Schüler nicht von ihren Lesefähigkeiten abhängen. Gleiches gilt für das Leben nach und außerhalb der Schule: "Wer nicht richtig lesen kann, kann sich die Welt nicht erschließen", sagt Bildungsexperte Köller.

Schule am Ossenmoorpark mit neuen Ansätzen

Ulla Kölbel, Deutsch- und Musiklehrerin an der Gemeinschaftsschule am Ossenmoorpark in Norderstedt (Kreis Segeberg). © NDR
Ulla Kölbel und ihre Kolleginnen und Kollegen wollen die Lesekompetenz ihrer Schüler verbessern.

Das wollen Ulla Kölbel und ihre Schulleitung für ihre Schülerinnen und Schüler der Gemeinschaftsschule Ossenmoorpark verhindern. Seit einigen Monaten gibt es an der Schule deshalb zwei neue Programme. Zum einen das sogenannte Leseband. Bedeutet an der Gemeinschaftsschule: 30 Minuten Lesen zu einer festen Uhrzeit in allen fünften Klassen - und zwar jeden Tag.

Turbo-Team-Programm läuft seit den Herbstferien

Eingeführt haben Ulla Kölbel und ihre Kolleginnen und Kollegen außerdem das "Turbo-Team-Programm". Ein digitales Tutoring-Programm, das nach Angaben der Entwickler "spielerisch die Leseförderung von Schulkindern ermöglicht". Dabei kommen seit den Herbstferien vier Mal die Woche für 25 Minuten Schülerinnen und Schüler zusammen, die besonders große Probleme beim Lesen haben. In Zweiergruppen lösen sie am Computer dann verschiedene Leseaufgaben. Das Geld dafür bekommt die Gemeinschaftsschule von Bund und Land. Sie ist Teil des Start-Chancen-Programms in Schleswig-Holstein. Darüber erhalten in den kommenden zehn Jahren bis zu 135 Schulen und Schulträger im Land 66 Millionen Euro.

Experten sehen viele Ursachen für Lesedefizite

Ein Grund dafür, dass so viele Schülerinnen und Schüler in Schleswig-Holstein, aber auch bundesweit nicht richtig lesen können, sieht Bildungsexperte Köller darin, dass bereits in den Kindertagesstätten zu wenig für die Sprachförderung getan wird. Dabei geht es laut Köller vor allem um Kinder aus sozioökonomisch benachteiligten Familien, "die häufig auch nicht die deutsche Sprache sprechen oder wenig Gelegenheit haben in der Bildungssprache Deutsch zu agieren".  

GEW: Qualität des Unterrichts hat abgenommen

Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Schleswig-Holstein sieht zwei weitere Gründe. Zum einen hat nach Ansicht der GEW-Vorsitzenden im Land, Kerstin Quellmann, die Qualität des Unterrichts abgenommen. Das liegt unter anderem daran, dass aufgrund des Fachkräftemangels an vielen Schulen inzwischen Quereinsteiger unterrichten. "Ohne diese Menschen kämen wir in den Schulen gar nicht mehr klar", sagt Quellmann. Aber: "Nicht umsonst studieren Lehrkräfte lange, um genau zu wissen, wie Lesen, wie Schreiben vermittelt wird."

Folgen der Corona-Pandemie verschieben Prioritäten

Und auch die Folgen der Corona-Pandemie sieht Quellmann als Ursache für die schlechten Lesefähigkeiten vieler Schülerinnen und Schüler. Man merke, dass während der Corona-Zeit viel soziales Lernen nicht habe stattfinden können, erklärt die GEW-Vorsitzende. In vielen Klassenräumen geht es im Moment also zunächst darum, den Kindern diese Basis für gemeinsamen Unterricht beizubringen. "Wir sind gezwungen, dem Vorrang einzuräumen, was auch richtig und wichtig ist", so Quellmann. "Aber es führt dazu, dass Unterrichtsinhalte nicht mehr so vermittelt werden können, wie noch vor vielleicht zehn Jahren."

Ansätze an Ossenmoorpark-Schule bisher vielversprechend

Deutschlehrerin Ulla Kölbel ist zumindest mit den Zwischenergebnissen der neuen Ansätze an ihrer Gemeinschaftsschule zufrieden. Die fünften Klassen, in denen das Leseband etabliert wurde, seien viel offener dem Lesen gegenüber als andere Jahrgänge, berichten ihr Lehrerkollegen. Ein bisschen stolz erzählt sie auch von einem Schüler aus der sechsten Klasse, der beim "Turbo-Team-Programm" dabei ist. Er spricht zu Hause mit seiner Familie kein Deutsch, hat aber durch das Programm seinen Wortschatz deutlich verbessert und an Selbstbewusstsein gewonnen. "Er hat richtig große Entwicklungsschritte gemacht", so Ulla Kölbel.

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Dieses Thema im Programm:

Schleswig-Holstein Magazin | 31.01.2025 | 19:30 Uhr

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