Kritik an Sozialgerichten in SH: Verfahren dauern zu lang

Stand: 21.05.2024 18:43 Uhr

Josephine Tödtmann aus Wrist (Kreis Steinburg) leidet an Diabetes Typ 1. Die Krankenkasse will den Pflegegrad 2 nicht genehmigen. Seit fünf Jahren wartet die Familie nun auf eine Entscheidung des Sozialgerichtes Itzehoe. Laut Sozialverband VdK Nord ist dieser Fall nur die Spitze des Eisbergs.

von Corinna Below

Statt in ihrem Büro zu sitzen und sich um die Steuern ihrer Kundinnen und Kunden zu kümmern, wartet Rafaela Tödtmann-Brandt in der Mensa der Gemeinschaftsschule Kellinghusen (Kreis Steinburg). Sie guckt immer wieder auf ihr Smartphone und hofft, dass die Diabetes-App Signale vom Handy ihrer Tochter empfängt. Sie müsse in der Nähe bleiben, sagt sie, falls der Zuckerwert ihrer Tochter kollabiere. In jeder Pause treffen sich Mutter und Tochter, um den Wert auf der Insulinpumpe zu checken. Im Fall der Fälle muss Josephine etwas Zuckerhaltiges essen. "262 ist zu hoch", sagt die Mutter. Schnell etwas essen oder lieber nicht? Zu riskant, entscheidet die Mutter. Wegen der Wärme könne das Insulin schnell abstürzen.

Die Pflege eines Kindes mit Diabetes - ein Vollzeitjob

Auch zuhause ist Tödtmann-Brandt wegen der Erkrankung ihrer Tochter nahezu den ganzen Tag in Alarmbereitschaft. Die Pflege von Josephine nimmt sie extrem in Anspruch. Alleine würde die 12-Jährige das noch nicht hinbekommen: Kohlenhydrate bemessen, dann entsprechend Insulin bestimmen, das über die Pumpe abgegeben werden soll, nach dem Essen den Insulin-Wert im Blut messen - es gibt kaum Pausen. "Und alle zwei Tage müssen wir den Katheder für die Pumpe wechseln. Wie soll sie das alleine schaffen? Sie hat andere Dinge im Kopf. Sie will ein ganz normales Kind sein." Ist der Zucker zu niedrig, so Tödtmann-Brand, fängt Josephine an, wie betrunken zu gehen und zu lallen. Oder sie verliert das Bewusstsein.

Ein Mädchen und eine Frau sitzen sich an einem Tisch einander gegenüber und messen den Blutzucker © NDR Foto: NDR Screenshot
Rafaela Tödtmann-Brand trifft sich in den Schulpausen mit ihrer Tochter in der Mensa, um den Zuckerwert zu kontrollieren, da die Jugendlichen kein W-Lan haben.
Der Kampf um Pflegegrad 2

Vor sechs Jahren kam die Diagnose: schwere Diabetes vom Typ 1. Seitdem hat Josephine den Pflegegrad 1. Das heißt, Tödtmanns können Leistungen in Höhe von 125 Euro pro Monat beantragen. Zu niedrig, fand Familie Tödtmann und stellte einen Antrag auf Pflegegrad 2. Damit könnte Tödtmann-Brandt die Versorgung ihrer Tochter selbständig und individuell bestimmen. 331,80 Euro bekäme sie ausgezahlt, die sie flexibel ausgeben könnte. Sie könnte zum Beispiel eine Pflegekraft als Entlastung engagieren oder auch mal eine Haushaltshilfe. Auch wäre auch eine neue Bauchtasche für die Insulinpumpe drin, so Tödtmann-Brandt. Die wüchsen ja nicht mit, sagt die Mutter. Doch die Krankenkasse lehnte die Hochstufung ab.

Seit fünf Jahren wird über den Pflegegrad verhandelt

Die Familie wurde daraufhin Mitglied des Sozialverbandes VdK Nord und legte über einen Rechtsreferenten Widerspruch beim Sozialgericht Itzehoe ein. "Das ist Ende Mai genau fünf Jahren her", so Tödtmann-Brandt. Für die Familie sehr zermürbend. Seitdem seien über Josephines Pflegebedarf sieben Gutachten geschrieben worden. Die Empfehlung der Schiedsgutachterin: Pflegegrad 2. "Bei Erwachsenen dauert eine Sozialklage länger. Was auch vollkommen legitim ist", findet Tödtmann-Brandt, "aber fünf Jahre bei einem Kind? Das geht gar nicht."

Sozialverband VdK Nord kritisiert die Sozialgerichte

Tim Golke vertritt Familie Tödtmann. Er bearbeitet viele vergleichbare Fälle und stellt seit Jahren fest: Klage-Verfahren vor den Sozialgerichten dauern immer länger. "Das Sozialgericht hat Möglichkeiten, Verfahren zu beschleunigen", so Golke, aber "das ist nicht erfolgt. Und das kritisieren wir." Laut Landesozialgericht Schleswig dauern Klage-Verfahren zurzeit im Schnitt etwa zwei Jahre. Sprecherin Katrin Gebhardt kennt diesen Missstand. "Seit dem Inkrafttreten des Hartz IV-Gesetzes im Jahr 2005 hatten die Sozialgerichte einen massiven Zuwachs an Verfahrenseingängen zu verzeichnen."

Der Grund: neue Zuständigkeit der Sozialgerichtbarkeit

Ein Mann sitzt in einem Büro an einem Arbeitstisch mit einem PC-Monitor. © NDR Foto: Corinna Below
Tim Golke ist Rechtsreferent beim Sozialverband VdK Nord und vertritt Familie Tödtmann im Klageverfahren vor dem Sozialgericht Itzehoe

Seitdem ist die Sozialgerichtsbarkeit für die Verfahren der Grundsicherung für Arbeitssuchende zuständig. Damals habe die Justizverwaltung nur zögerlich das richterliche Personal aufgestockt. Man habe gehofft, dass der Ansturm abebben würde. Das sei aber nicht passiert. Auch gebe es Bürger, sogenannte Vielkläger, die mit einer Flut von Klagen das System zusätzlich belasten. Seit 2013 gehe die Zahl der Anträge allerdings leicht zurück. Gebhardt ist deshalb zuversichtlich, dass die Sozialgerichte die Verfahren gut abarbeiten könnten, vorausgesetzt, es würden keine Stellen abgebaut.

Die Forderung: mehr Personal, weniger Gutachten, neue Strukturen

Dem Sozialverband VdK Nord reicht das nicht: Er fordert neue Stellen für Richterinnen und Richter an den Sozialgerichten. Außerdem müsse die Zahl der Gutachten gedeckelt und neue, effizientere Beratungsstrukturen aufgebaut werden. Die Verantwortung sieht Sozialrechtsreferent Tim Golke bei der Landesregierung.

Justizministerium verweist auf 100 Prozent Personalausstattung

Ein Sprecher des Justizministeriums Schleswig-Holstein antwortete auf Nachfrage von NDR Schleswig-Holstein, dass die Personalausstattung der Sozialgerichtsbarkeit seit 2020 durchgängig bei mehr als 100 Prozent liege. Damit sei sie die "an Personal bestausgestattete Gerichtsbarkeit" im Land, so der Sprecher weiter.

Familie Tödtmann wartet auf eine Entscheidung

In Kellinghusen bereitet Rafaela Tödtmann-Brandt den Katheter-Wechsel vor. "Da darf nichts schiefgehen." Der Zugang am Bauch soll sich schließlich nicht entzünden. Das wird Josephine in ein paar Jahren sicher auch alleine machen können. "Aber jetzt ist es noch nicht soweit. Sie ist ein Kind." Tödtmann-Brandt hofft, dass das Sozialgericht bald eine Entscheidung trifft. "Hoffentlich für den Pflegegrad 2."

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Dieses Thema im Programm:

Schleswig-Holstein Magazin | 21.05.2024 | 19:30 Uhr

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