Aktivistin: Eine Flucht von Afghanistan nach Kiel
Seit die Taliban im August das Machtvakuum in Afghanistan gefüllt haben, leben viele Menschen mit der Angst um ihr Leben. So auch Nargis und ihre Familie - doch sie hat die lange Flucht nach Kiel geschafft.
Das Handy klingelt auch nachts. "Wir sind die Taliban, sie muss zu uns kommen", knarzt es durch die Leitung. Sie, das ist Nargis, 42, nach eigenen Angaben für die Unabhängige Menschenrechtskommission Afghanistan aktiv. Bei den Anrufen mit unterdrückter Nummer geht der Ehemann ran, selbst abzuheben traut sich die Afghanin nicht. Die Terrormiliz hat sie in einer "Target"-Gruppe, sozusagen auf einer Todesliste für erklärte Erzfeinde. Spätestens seit die Anrufe angefangen haben, ist klar: Um ihr Leben zu retten, müssen sie, ihr Mann und die drei Kinder ganz schnell aus der geliebten Heimatstadt Masar-i-Sharif verschwinden, bevor sie die Taliban finden.
Mehr als zehn Wochen auf der Flucht
So schildert Nargis die Geschehnisse im August 2021 - in einer Zeit, in der die internationalen Streitkräfte abzogen und die Extremisten das Machtvakuum füllten. Jetzt, Mitte Dezember, sitzt die Afghanin in einem Café in Kiel und kann über ihre Geschichte sprechen. Sie wirkt gelöst, erleichtert - und doch schleicht häufig der Kummer über ihr Gesicht, wenn sie erzählt. Im Oktober ist sie mit ihrer Familie angekommen, nach einer Flucht, auf der sie sich ständig verstecken mussten. Eine Flucht, die mehr als zehn Wochen gedauert hat.
Über Kabul an die Grenze zu Pakistan
Kurz nachdem die nächtlichen Anrufe Anfang August kamen, verlässt die Afghanin mit ihren Angehörigen die Hauptstadt Kabul per Landweg. Einmal habe es auf dem Weg eine Fahrzeugkontrolle gegeben, doch die Taliban seien so abschätzig Frauen gegenüber, erzählt Nargis, dass sie sie nicht ansehen wollten. Die SIM-Karte mit der Nummer, auf die die Drohanrufe kamen, hatte sie zerstört - um Spuren zu verwischen, über die sie vielleicht geortet werden könnte.
In Kabul bleibt die Familie von öffentlichen Straßen fern, erzählt die Afghanin weiter, bevor sie der Weg nach Spin Boldak führt, einer Stadt an der Grenze zu Pakistan. Mit ihnen unbekannten Menschen seien sie im Auto bis dorthin gefahren, doch wurden nicht ins Nachbarland gelassen, sagt Nargis. "Die pakistanische Armee hat gesagt, wir würden aussehen wie die Hazara" - eine unterdrückte shiitische Minderheit. Aus Willkür, sagt sie, wird ihr damals 12-jähriger Sohn geschlagen - sie musste zugucken, konnte nicht einschreiten. Jedes Mal, wenn die 42 Jahre alte Frau von ihren Kindern erzählt, werden die Augen rot und sie legt die Hände auf das Gesicht. Groß ist die Beklommenheit, wenn sie sich erinnert.
Mit einem Trick verlassen sie Afghanistan
An der Grenze harren sie etwa zehn Tage aus. Dann gelingt die Passage - mit Hilfe von Burkas, mit denen sich die Familie verschleiert. In Pakistan finden sie Zuflucht in einer Moschee in Quetta, müssen sich als illegale Einwanderer aber weiter verstecken, sagt Nargis. "Die Armee dort hat auch Kontakt zu den Taliban, wir haben uns nie sicher gefühlt." Die Angst bleibt ein steter Begleiter, vor allem, wenn sie die Unruhe bei den Kindern spürt. "Wir haben ihnen immer gesagt: Wenn jemand fragt: 'Was hat deine Mama gemacht?’, sollten sie sagen: 'Sie war Hausfrau'."
Per Mail kommt die Aufnahmezusage von Deutschland
Die Aussicht auf ein Ende der Flucht bringt schließlich eine Mail Anfang Oktober. Nargis und ihre Familie hat nach Prüfung ihres Gefährdungsgrades eine Aufnahmezusage von der Bundesregierung bekommen. Es ist die Nachricht, auf die die Afghanin gewartet hat - und doch bleibt die Anspannung. Was ist, wenn doch noch was schief läuft? Was ist, wenn sie doch noch den Taliban in die Arme laufen? Ihrer Familie habe sie deswegen erstmal nichts davon gesagt, erzählt Nargis.
Die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit und Entwicklung (GIZ) holt die Familie per Flieger nach Islamabad. Und auf dem Flughafen der pakistanischen Hauptstadt taucht tatsächlich noch jemand auf, der Nagris das Blut in den Adern gefrieren lässt: Als sie sich den Eintrag in den Pass setzen lässt, mit dem sie nach Deutschland fliegen darf, sieht sie in einiger Entfernung politische Führer der Taliban. Es bleibt bei dem Schockmoment - sie ziehen ab, und Nagris steigt mit ihrer Familie kurz darauf in den Flieger nach Deutschland, schließlich nach Kiel. Hier wartet: ihre Schwester Shamsia.
Die kleine Schwester setzt sich ein
Shamsia ist wohl der Grund, warum Nagris und ihre Angehörigen in Sicherheit sind. An diesem Tag im Café, an dem Nagris über ihre Flucht spricht, sitzt die 33-Jährige daneben und übersetzt. Von ihr kam die rettende Liste mit den Namen zu Amnesty International Deutschland, darüber dann die Einreiseerlaubnis.
Shamsia habe sich über Wochen dafür eingesetzt, ihre Familie aus Afghanistan zu holen, erzählt sie. "Ich habe jeden Antrag ausgefüllt, den ich konnte, überall angerufen, Listen verschickt", erzählt Nagris Schwester. Auch sie sei in Afghanistan aktiv gewesen, habe sich für Frauenrechte eingesetzt. 2015 konnte Shamsia flüchten und ein Leben in Schleswig-Holstein aufbauen. Hier stehe sie mit Innenministerin Sabine Sütterlin-Waack (CDU) in Kontakt, die versuche, dort zu unterstützen, wo sie kann, erzählt Shamsia. Jetzt heißt es, den Rest der Familie nachzuholen. "Sie sind zum Glück schon alle raus aus Afghanistan", sagt die junge Frau, "die verstecken sich in Pakistan. Erstmal sind sie außer Gefahr."
Trotz Verbots durch die Taliban: Afghaninnen gehen auf die Straße
Doch was die beiden Schwestern weiter sehr beunruhigt, ist die schlimme Lage der Menschen, die in Afghanistan festsitzen. "Sie haben nicht nur ein unsicheres Leben, sie haben ein großes Hungerproblem", erzählt Nargis, während Shamsia übersetzt. "Jeden Tag verhungern Menschen." Besonders Frauen sind in dem Regime der Taliban gefährdet, Femizide seien sehr wahrscheinlich, sagt Shamsia.
Sie zeigt ein aktuelles Video von Facebook: Eine Gruppe Frauen läuft an einer befahrenen Straße entlang, es soll sich in Kabul abspielen. Sie skandieren für Brot, Arbeit, Freiheit und politische Partizipation, halten Plakate hoch - trotz eines Demonstrationsverbots durch die Terrormiliz. "Seit der Machtübernahme sind sie immer wieder auf die Straße gegangen, sehr laut und selbstbewusst - und wütend auf die Welt, weil sie nur zuschaut", sagt Shamsia.
"Sie haben Angst vor Sozialen Medien"
Die Demo sei von den Taliban aufgelöst, die Frauen zusammengeschlagen worden, erzählt Nargis. "Die Frauen, die dort für Afghanistan kämpfen, setzen ihr Leben aufs Spiel", sagt Shamsia. "Heute, als sie demonstriert haben, sind sie auf Facebook live gegangen, damit das alle sehen", erklärt die 33-Jährige. Das sei eine Waffe gegen die Taliban: Die bräuchten Anerkennung durch die Staatengemeinschaft und Geld, und das mache sie vorsichtiger in der Öffentlichkeit. "Sie haben Angst vor Sozialen Medien", sagt Shamsia, "und dass die Frauen die nutzen, das können die Taliban nicht verhindern."
Nargis' Flucht ist ein Thema des Theaterstücks "Malala" im Werftparktheater in Kiel-Gaarden.