Ärztepfusch: Vorwürfe in der JVA Neumünster
Ein Stück vom Keks abbeißen, einen heißen Kaffee genießen - bei Stephan (Name geändert) löst diese Vorstellung alles andere als Freude aus. Essen bereitet ihm Schmerzen. Nach der Eingliederung von Brücken und Kronen hat er ständig Zahnschmerzen. Sein Zahnfleisch ist entzündet, sein Kiefer verschoben. Ihn plagen Nacken- und Kopfschmerzen.
Immer wieder geht er zu dem Zahnarzt, der ihm den Zahnersatz eingebaut hat - er will, dass die Schmerzen aufhören. Doch Linderung erhält er lediglich durch eine hohe Dosis an Schmerztabletten. Den Zahnarzt wechseln kann Stephan nicht, denn er sitzt im Gefängnis: in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Neumünster, zwei Jahre wegen Betrugs.
Dem Zahnarzt quasi ausgeliefert
Die Beschwerden über den Zahnarzt der Anstalt, Dr. Michael M., häufen sich. In der JVA Neumünster hat es offenbar über mehrere Jahre hinweg Pfusch und Hygienemängel bei Behandlungen von Dr. Michael M. gegeben. Und die Gefangenen sind seinen Behandlungsmethoden quasi ausgeliefert, da sie keine freie Arztwahl haben. Über die Vorwürfe hatte zunächst die "Schleswig-Holsteinische Landeszeitung" berichtet.
So ist Stephan nicht der Einzige, der unter der Behandlung von Dr. Michael M. gelitten hat. Panorama 3 liegen Berichte weiterer ehemaliger und aktueller Gefangener der JVA vor. So wurden Nicolaie S. Zähne gezogen und eine Brücke verbaut. Offenbar befinden sich aber noch Wurzelreste der Zähne im Kiefer, die zu Schmerzen und Entzündungen geführt haben. So zitierte jedenfalls das Landgericht Kiel aus der Gefangenen-Personalakte von Nicolaie S. Das spreche, so das Gericht, für den Verdacht eines Behandlungsfehlers.
Auch Jens B. gab zu Protokoll: "Mir wurden fünf Zähne gezogen. Bei einem Zahn verblieb ein Teil der Zahnwurzel im Kiefer." Es sei "zu einer Entzündung gekommen". Die aktuelle Leitlinie der Zahnmedizin sieht in einem solchen Fall ein Röntgenbild zur Unterstützung der Diagnostik vor. Doch Jens B. schrieb: "Eine Röntgenuntersuchung wurde nicht vorgenommen."
Auffällige Hygieneverstöße
Auch Hygieneverstöße will Nicolaie S. beobachtet haben. Der Gefangene, der als Dolmetscher bei einigen Behandlungen dabei war, habe "gesehen, dass er mit denselben Instrumenten, mit denen er zuvor im Mundraum des einen Gefangenen hantiert hatte, sodann im Mundraum des nachfolgenden Patienten arbeitet, ohne diese zu wechseln oder zu desinfizieren". Ferat A. gibt zu Protokoll: "In einem Fall sprach ich ihn auf erkennbar unsaubere Handschuhe an. Er gab an, dass diese sauber seien. Ich wies ihn darauf hin, dass an dem einen Handschuh noch Blut haftete. Erst darauf hat er die Handschuhe gewechselt."
Missstände lange bekannt
Der Zahnarzt Dr. M. war mehrere Jahrzehnte lang in der JVA per Honorarvertrag tätig und wurde vor einem Jahr pensioniert - offenbar bestanden die Missstände längere Zeit. Björn Ursolov saß in den 1990er-Jahren in Neumünster ein. Er berichtet Panorama 3, dass es schon damals ein offenes Geheimnis gewesen sei, dass der Zahnarzt unsauber arbeite. "Wieso geht das noch 20 Jahre weiter, wenn sich damals die ersten Leute beschwert haben?"
Auch Stephan habe sich beschwert, immer wieder. "Ich bin mehrmals da gewesen, habe mehrmals die Abteilungsleiterin und die Vollzugsleitung informiert, dass die mich bitte zu einem anderen Arzt überstellen. Das wurde nicht gemacht. Man hat mich und die anderen Gefangenen nicht für voll genommen."
Es stellt sich die Frage, wieso dem mutmaßlichen Ärztepfusch so lange Zeit kein Ende gesetzt wurde. Das Land hat eine Fürsorgepflicht gegenüber Gefangenen: Deren Recht auf eine angemessene medizinische Versorgung ist gesetzlich verankert. Panorama 3 liegen Beschwerden sowohl an die Anstaltsleitung, als auch an das Justizministerium in Kiel vor. Auch der Petitionsausschuss des Landtages wurde seit 2013 fünf Mal wegen der zahnärztlichen Versorgung in Neumünster angeschrieben. Eine Eingabe bezog sich auf die "Praxis des Zahnarztes, mehrere Patienten mit demselben Handschuhpaar zu behandeln". Sie hatte insgesamt 45 Unterzeichner.
Klärung der Vorwürfe dauert an
Die Vorwürfe müssen dem Ministerium spätestens seit 2013 bekannt sein. Nach Informationen von Panorama 3 ging mindestens eine Beschwerde an Justizministerin Anke Spoorendonk (SSW) persönlich. Auf Anfrage teilt ein Sprecher des Ministeriums mit, es handele sich um Vorwürfe von Gefangenen über medizinische Behandlungen in einer JVA. "Das ist nicht ungewöhnlich, stellt sich in den allermeisten Fällen jedoch als haltlos heraus." Die Behauptungen und Vorwürfe seien "bislang allesamt unbewiesen". Die Klärung der Vorwürfe dauere an. Der Petitionsausschuss habe in keinem Fall Anhaltspunkte für Fehler in der ärztlichen Behandlung und Versorgung gefunden. Mit Hinweis auf laufende Verfahren lehnt das Ministerium weitere Äußerungen ab.
Die seit 2013 amtierende Leiterin der JVA Neumünster, Yvonne Radetzki, wollte sich zu den Vorwürfen mit Hinweis auf laufende Verfahren nicht äußern. Auch sie teilte mit, dass es in den letzten Jahren bei Eingaben keine Anhaltspunkte für eine ärztliche Fehlbehandlung gegeben habe.
Auch der Zahnarzt Dr. M. verwies über seinen Anwalt auf anhängige Gerichtsverfahren.