Stadt der Schranken: Wenn Bahnübergänge den Alltag bestimmen
Sieben Bahnübergänge zerschneiden Neustadt am Rübenberge. Anwohner müssen bis zu 30 Minuten Puffer auf ihren Wegen einplanen. Das ist nicht nur nervenaufreibend, es kann auch gefährlich werden.
Die Schlange der Fahrzeuge wird länger und länger. 14 Minuten ist die Schranke am Bahnübergang nun schon geschlossen. Ein paar Autofahrer sind ausgestiegen und schimpfen, einer hupt, und selbst der Rettungswagen kommt erstmal nicht vom Fleck. Erst rauscht ein ICE vorbei, dann lange nichts, bis der ellenlange Güterzug aus der anderen Richtung durchrattert. Ein ganz normaler Tag in Neustadt am Rübenberge. Sieben Bahnübergänge zerschneiden die niedersächsische Stadt in der Region Hannover, beeinträchtigen den Alltag der Menschen, bremsen ihn aus.
Neustadt: 287 Züge pro Tag im Schnitt - und es werden mehr
Bis zu 16 Stunden pro Tag sind die Schranken hier unten. Neustadt liegt auf der Strecke zwischen Bremen und Hannover, sämtliche Güterzüge zum JadeWeserPort müssen hier durch. Das Ergebnis: Im Schnitt durchqueren täglich 287 Züge des Nah-, Fern- und Güterverkehrs die Ortschaft, so die Deutsche Bahn. Und es wird noch schlimmer: Immer mehr Güter werden auf die Schiene verlagert, die Bahn verdichtet die Taktung.
Auch Rettungskräfte müssen warten
Wer hier lebt, muss also Pufferzeiten einplanen. Mindestens zehn, manchmal bis zu dreißig Minuten steht man hier immer vor irgendeiner Schranke - egal, ob Fahrrad oder privater Pkw, Müllwagen, Linienbus oder Feuerwehr. Dass auch die Rettungskräfte im Zweifel warten müssen, macht den Anwohnern Sorgen. "Wir denken immer die Schranke mit", erzählt Anwohner Carsten Köhne. Er selbst habe im vergangenen Jahr einen Unfall gehabt, habe zuhause unter Schmerzen gelegen und gerechnet, wieviel später der Notarzt wohl kommen würde.
Risiko Bahnübergang
Aber die Übergänge selbst sind auch ein Risiko. Die Menschen, frustriert vom dauernden Warten, werden leichtsinnig. "Wenn Sie sehen, wie viele Autos hier bei Rot rüberfahren", erzählt Ortsbürgermeisterin Monika Strecker (CDU). "Das ist so gefährlich!" Radfahrer flitzen noch schnell unter der Schranke durch, Fußgänger klettern drüber, Autos geben Gas, wenn die allgegenwärtige Glocke der sich senkenden Schlagbäume erklingt.
Drei Tote bei Unfall im April
Der tödliche Unfall am Bahnübergang Himmelreich im Norden der Stadt sitzt den Menschen hier noch in den Knochen. In der Nacht zum 23. April waren drei junge Menschen umgekommen, als der 22-jährige Fahrer um die geschlossene Halbschranke herumgefahren war. Ihr Auto wurde von einem Regionalexpress in voller Fahrt erfasst. Der junge Mann und seine beiden 21- und 22-jährigen Mitfahrerinnen waren sofort tot.
Untersuchung der Bahn: Fehlverhalten ist Ursache für fast alle Unfälle
42 Menschen starben im vergangenen Jahr an deutschen Bahnübergängen - so viele wie seit dem Jahr 2010 nicht mehr. Das zeigen Daten der Bundesstelle für Eisenbahnunfalluntersuchung (BEU). Dabei ist die Statistik der Bahn eindeutig: Zu mehr als 97 Prozent führte ein Fehlverhalten von Verkehrsteilnehmern zu den Unfällen. Allein das Umfahren von Halbschranken - wie in Himmelreich - würde zu mehr als einem Drittel aller Unglücke führen. Lokführern bleibt da keine Chance, noch rechtzeitig anzuhalten: Ein 1.000 Tonnen schwerer Personenzug etwa habe bei Tempo 100 einen Bremsweg von etwa einem Kilometer.
Zahl der Bahnübergänge gegenüber früher deutlich gesunken
Im Moment gibt es in Deutschland rund 16.000 Übergänge, die meisten davon in Bayern (rund 2.940), Niedersachsen (2.040) und Nordrhein-Westfalen (2.000). Seit den 1950er-Jahren hat sich die Zahl der Bahnübergänge etwa halbiert. Sie wurden durch Unterführungen oder Brücken ersetzt oder Strecken wurden stillgelegt.
Kampf gegen Windmühlen
Ähnliches ist auch in Neustadt am Rübenberge geplant - seit Jahren schon. Vor genau einem Jahrzehnt hat Ulrich Thies die Bürgerinitiative "Schranke weg!" gegründet. Nun hat er das Handtuch geworfen, weil sich trotz aller Arbeit, Briefwechseln, Zeitmessungen und trotz persönlichen Einsatzes noch immer nichts bewegt hat. Ein Kampf gegen Windmühlen: "gegen die Hartnäckigkeit der Behörden und deren Vorstellung von Zeitabläufen", erzählt Thies resigniert. "Dass hier jeder Tag zählt und nicht Jahre, da kommen Sie nicht gegen an."
Modernisierung kostet Millionen - und dauert
Einen Bahnübergang zu modernisieren, kostet Millionen. Wer welche Kosten übernimmt, auch das muss zunächst verteilt werden. In Neustadt am Rübenberge zum Beispiel sind vier Parteien beteiligt: Neben der Stadt und der Region Hannover sind auch die Landesstraßenbaubehörde und natürlich die Bahn Projektpartner und müssen sich einigen. Verhandlungen mit dem Streckenbetreiber DB Netz ziehen sich mitunter über viele Jahre hin. Die Bahn legt sogenannte Sperrpausen für die Gleisbauarbeiten fest. Wenn die Planung nicht rechtzeitig abgeschlossen ist und diese Sperrpause verstreicht, dann verschiebt sich der Baubeginn erneut um Jahre.
Bahnüberführung in Neustadt? Nicht vor Ende 2026
Genau das ist in Neustadt passiert. Naturschutzprüfungen sind nötig: Leben geschützte Arten im Gebiet der Baustelle, ist der Boden frei von Kampfmitteln? Erst, wenn das alles geklärt ist, kann es einen Planfeststellungsbeschluss geben und die Ausschreibung darf beginnen. Im Klartext: Der erste Stein für die erste Bahnüberführung der Stadt wird frühestens Ende 2026 gelegt werden können.
"Wir fühlen uns abgehängt"
Für viele hier ist das einfach zu spät. "Wir fühlen uns abgehängt", sagt Harry Lohmann, der mit seiner Frau hinter der Schranke im Ortsteil Poggenhagen lebt, wo die Übergänge länger geschlossen bleiben als in jedem anderen Teil der Stadt. Viele seien schon weggezogen. Die anderen kennen die Fahrpläne auswendig, planen ihren Tag rund um die Zugzeiten.
Neustadt am Rübenberge ist um die Schienen herum gewachsen, und der Eisenbahnverkehr bleibt wichtiger denn je. Trotzdem: Für die Menschen hier ist das Leben im wahrsten Sinne des Wortes eingeschränkt.