Richterbund warnt: Vertrauen in den Rechtsstaat in Gefahr
Der niedersächsische Richterbund schlägt Alarm. Die Zahl der Straftaten und Verdächtigen ist in den vergangenen Jahren stark gestiegen, das Land stellt aber nicht genügend Personal ein. Das räumt das Justizministerium auch ein.
Der niedersächsische Richterbund kritisiert, dass Staatsanwälte förmlich unter Aktenbergen versinken. "Wenn man versucht, immer mehr Fälle in die Arbeitszeit hineinzupressen, haben wir ein überlastetes System", erläutert der Landesvorsitzende Frank Bornemann. "Und jedes überlastete System macht Fehler." Manche Ermittler müssten Fälle am Wochenende oder im Urlaub abarbeiten, um überhaupt noch hinterherzukommen, sagt Bornemann. Andere würden ihre Arbeitszeit reduzieren, um weniger Strafverfahren auf den Tisch zu bekommen.
Vorsitzender des Richterbunds: "Gerechtigkeit kann auf der Strecke bleiben"
Die Folgen dieser Arbeitsbelastung sind laut Bornemann gravierend: Ermittlungen könnten aus Zeitgründen "unvollständig" sein, manche Strafverfahren würden schneller eingestellt, schätzt der Richterbund. Auch das genaue Gegenteil ist möglich: Strafverfahren ziehen sich über Jahre hin - das sei schlecht für Opfer und Beschuldigte. "Wenn man Jahre über Jahre warten muss, ist das äußerst belastend", sagt Bornemann. Der Vorsitzende des Richterbunds geht noch einen Schritt weiter. Er sieht die Demokratie in Gefahr, wenn der Eindruck entstehe, der Rechtsstaat setze sich nicht mehr durch. "Da kann die Gerechtigkeit auf der Strecke bleiben", beklagt er. Das Justizministerium sieht diese Gefahr nicht. Niedersachsens Staatsanwälte ermittelten "auch bei hoher Belastung stets akribisch und sorgfältig", heißt es von da.
Politik kommt nicht mit Personal hinterher
Das Problem: Den Fällen, die neu reinkommen, stehen insgesamt zu wenig Staatsanwälte und Staatsanwältinnen gegenüber. Im vergangenen Jahr registrierten die Behörden in Niedersachsen rund 567.000 neue Ermittlungsverfahren - etwa 40.000 mehr als im Jahr davor, rund 80.000 mehr als im Jahr 2017. Hintergrund sind zum Beispiel umfangreiche Kinderpornografie-Ermittlungen, auch Betrug und Diebstahldelikte nehmen zu. Bundesweit steigen die Zahlen ebenfalls. Allerdings kommt die Politik nicht mit zusätzlichem Personal hinterher, das räumt das niedersächsische Justizministerium ein. Angedachte zusätzliche Stellen sind dem Rotstift zum Opfer gefallen. "Angesichts der angespannten Finanzlage konnte der Plan für 2024 noch nicht wie geplant in Angriff genommen werden", teilt das Justizministerium mit.
Staatsanwaltschaft Hannover am stärksten betroffen
Die Staatsanwaltschaft in Hannover trifft es derzeit am härtesten. Rund 65 Stunden müssten die Kollegen pro Woche arbeiten, würden sie alle Fälle, die auf ihren Tisch kommen, bearbeiten, rechnet Oberstaatsanwalt und Behördenleiter Marcus Röske vor. "Wenn wir die Verfahrenszahlen beobachten, stellen wir einen kontinuierlichen Anstieg fest. Aber natürlich sehen wir auch, wie viele Verfahren hier erledigt werden können. Und seit Jahren gibt es dort ein Missverhältnis." Das heißt, es kommen im Jahr mehr Verfahren neu zu der Staatsanwaltschaft hinzu, als tatsächlich erledigt werden können. "Die Halde der Verfahren, die hier zu bearbeiten sind, wird immer größer."
Justizministerium: 175 Stellen fehlen
Das SPD-geführte Justizministerium spricht für ganz Niedersachsen offen von einem rechnerischen Fehlbedarf von 175 Stellen. Das Ministerium betont, es setze sich bei den Verhandlungen über den Landeshaushalt 2025 "nachdrücklich für eine bedarfsgerechte Ausstattung der gesamten Justiz, insbesondere auch der niedersächsischen Staatsanwaltschaften ein". Doch Finanzminister Gerald Heere (Grüne) dämpft schon mal die Erwartungen. Heere verweist auf die angespannte Wirtschaftslage und dürftige Steuereinnahmen. "Das führt natürlich dazu, dass einfach nicht alle Prioritäten, so wichtig sie auch wären, erfüllt werden können", macht Heere klar. Der niedersächsische Richterbund hört solche Sätze nicht gerne. "Der Rechtsstaat muss funktionieren, und die Justiz muss entsprechend ausgestattet werden", sagt Landeschef Frank Bornemann.