Misshandlung früherer Heimkinder: Kirche wertet alte Briefe aus
In den 1950er- und 60er-Jahren wurden offenbar Heimkinder in Pflegestellen in Niedersachsen misshandelt. Laut Landeskirche Hannover wurden bisher etwa 100 Akten gesichtet. Die Kirche geht weiteren Hinweisen nach.
In zehn Prozent der Akten seien bisher Hinweise auf Gewalt gefunden worden, sagte ein Sprecher der Landeskirche am Donnerstag. Es handele sich um Fälle von Heimkindern, die offenbar vor rund 50 Jahren in Pflegestellen in Elsdorf (Landkreis Rotenburg) misshandelt wurden. Die diakonische Pestalozzi-Stiftung in Burgwedel (Region Hannover) hatte zusammen mit dem örtlichen evangelischen Pfarramt die Kinder auf Höfe und in Handwerksbetriebe vermittelt. Von dort berichteten die Kinder in Briefen von Misshandlungen.
Landeskirche: Kinder sollen zum Teil auch sexualisierte Gewalt erfahren haben
"Die genaue Zahl der Betroffenen ist noch unbekannt", sagte die Psychologin Julia Nortrup von der Fachstelle sexualisierte Gewalt der evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers, die den Fund sichtet. Auf den Gehöften und in den Handwerksbetrieben sollen die Kinder laut einem Sprecher der Landeskirche zum Teil auch sexualisierte Gewalt erfahren haben. Die Landeskirche hatte den Fund der Briefe am Montag öffentlich gemacht.
Briefe: Kinder schreiben über Gewalterfahrungen
Im Rahmen eines Pastorenwechsels in der Kirchengemeinde Elsdorf sei im Sommer der Dachboden aufgeräumt worden, sagte der Sprecher der Landeskirche. Dabei wurden Umzugskartons mit Aktenordnern gefunden - darin auch alte Briefe von Heimkindern und Jugendlichen mit Schilderungen von Gewalt- und Missbrauchserfahrungen in den Pflegestellen. Diese gingen damals an einen kirchlichen Mitarbeiter in Elsdorf. Gegen diesen Mitarbeiter hatte eine Person bereits 2014 Anerkennungsleistungen wegen sexualisierter Gewalt beantragt - und diese auch bekommen. Seinerzeit sei der Beschuldigte bereits tot gewesen, heißt es von der Landeskirche. Die Sichtung der Akten ist laut der Mitarbeiterin der Fachstelle sexualisierte Gewalt noch nicht abgeschlossen. "Vor Januar sind wir nicht damit fertig", sagte Nortrup.
Fachstelle der Landeskirche sichtet Aktenfunde
Im Gespräch mit dem NDR Niedersachsen berichtete Nortrup unter anderem von Schreiben, die der damalige Pastor an Jugendämter geschrieben habe, wenn ihm Berichte über schlechte Unterbringung vorgelegen hätten. Dazu gehörte auch zu wenig Essen oder ein fehlendes Bett, so Nortrup. Zwischen den Zeilen tauchten immer wieder "unterdrückte Hilfeschreie" auf. Kinder hätten dem Pastor geschrieben, dass sie lieber ins Heim zurück möchten - weil alles besser sei, als das, was sie gerade erleben müssten, schilderte sie. Damals sei man erst mit 21 Jahren volljährig gewesen. Ab dem 16. Lebensjahr konnten Kinder laut der Psychologin aber nicht mehr im Heim bleiben.
Betroffene werden gebeten, sich zu melden
Der Superintendent im Kirchenkreis Bremervörde-Zeven, Carsten Stock, zeigte sich zutiefst betroffen. "Dass ein kirchlicher Mitarbeiter von den Vorgängen offenbar Kenntnis hatte und es den Verdacht gibt, dass er selbst sexualisierte Gewalt gegenüber einer jugendlichen Person begangen hat, finde ich furchtbar", so Stock. Hinweisen werde konsequent nachgegangen, sagte er. Auch werden ehemalige Heimkinder und Zeitzeugen gebeten, sich zu melden.
Anmerkung der Redaktion: In der vorherigen Version des Artikels wurde darüber berichtet, dass es laut Landeskirche Hannover bisher etwa belegte 100 Fälle gebe. Es handelt sich jedoch um bisher rund 100 gesichtete Akten und nicht um 100 bestätigte Fälle von misshandelten Heimkindern in Pflegestellen in Elsdorf (Landkreis Rotenburg).