Christian Wulff denkt nach über Liebe, Hass und Demokratie
"Den Raum kenn' ich." Mit diesen Worten und süffisantem Lächeln betritt Christian Wulff den Schwurgerichtssaal 127 - den Ort, an dem ihm in der sogenannten Wulff-Affäre 2013 der Prozess gemacht wurde.
Damals ging es im Landgericht Hannover um mögliche Vorteilsannahme und Vorteilsgewährung. Am 27. Februar 2014 wurde Wulff freigesprochen. Diesmal warten an gleicher Stelle etwa 90 Zuhörende, unter ihnen viele Studentinnen und Studenten, gespannt darauf, was der Bundespräsident a.D. heute zu sagen hat. "Liebe und Hass. Gedanken zur Demokratie" nennt der 63-Jährige seinen Vortrag. Die Juristische Studiengesellschaft Hannover hatte eingeladen. Und ein bisschen schwingt vielleicht die Hoffnung mit, dass Wulff auch hier, in Hannover, ähnlich diskussionsfreudige Sätze von sich geben könnte, wie damals am 3. Oktober 2010, als er bei den Feierlichkeiten zur Deutschen Einheit in Bremen davon sprach, dass auch der Islam zu Deutschland gehöre und nicht nur das Christen- und das Judentum.
Sorge vor Radikalisierung durch die AfD
Auch diesmal skizziert Wulff seinen Blick auf die Welt, vor allem auf Deutschland. "Die größte Gefahr sehe ich aktuell in der Entfremdung und Distanz zur Politik und die politische Ignoranz. Mich alarmiert seit vielen Jahren das Sinken der Mitgliederzahlen der deutschen demokratischen Parteien, die steigenden Nichtwählerzahlen, die Radikalisierung in der Gesellschaft", sagt Wulff. Für letztere macht er vor allem die AfD verantwortlich.
Kirchen, Vereine und Parteien in die Pflicht nehmen
Für das Zusammenleben fordert der ehemalige niedersächsische Ministerpräsident mehr Vielfalt. Die sei zwar anstrengend und herausfordernd, aber auch wichtig. "Ich frage mich, ob Kirchen, Vereine, Verbände und Parteien auch deshalb an Zuspruch verlieren, weil sie sich nicht zureichend darum kümmern, Bürger unabhängig von ihrer sozialen Lage oder ihrer ethnischen Zugehörigkeit einzubinden", sagt Wulff und folgert: "Man bleibt eben doch eher unter sich."
Die Rolle der Medien
Der CDU-Politiker warnt vor einer "Gesellschaft der Ich-AGs" und nimmt auch die Journalistinnen und Journalisten in die Pflicht. "Heute haben wir es viel mit Journalisten zu tun, die sich nicht mehr zuständig fühlen für das ganze System Demokratie, sondern ihre Aufgabe allein darin sehen, ständig Leute zu Fall zu bringen, ohne zu merken, wie denn die Auswechselbank besetzt ist." Auch die Berichterstattung über ihn selbst damals macht Wulff zum Thema, nicht, indem er seine eigene Meinung kundtut ("das wäre nachtragend"), sondern, indem er den Investigativ-Journalisten Hans Leyendecker aus dessen Buch zitiert: "Eine Medien-Meute jagte den damaligen Bundespräsidenten (...). Die Staatsanwaltschaft Hannover stützte sich in Teilen auf die Verdachtsberichterstattung der Medien (...) ein wahrer Ermittlungsexzess."
Mut für Veränderung
50 Minuten spricht Wulff. Es ist eine differenzierte, nachdenkliche Rede. Aber Wulff verharrt nicht nur im Status Quo. Er will auch Mut machen für Veränderungen. Dabei komme es auf das Engagement jedes einzelnen an: "Wenn unser Land eine enkeltaugliche Zukunft - menschlich, klimaneutral, demokratisch - zustande bringen will, dann braucht es das Zusammenwirken von Menschen, die heute noch gar nicht daran denken, dass sie zusammenwirken werden. Wir brauchen außerdem ein Zusammenwirken von Staaten, die verfeindet sind."
Wie wird die Zukunft?
Und wie wird nun die Zukunft? Natürlich kenne sie niemand, sagt Wulff und schiebt dann gleich einen Ausspruch des griechischen Philosophen Aristoteles hinterher: "Es muss derjenige Teil, der wünscht, dass die Verfassung bleibt, stärker sein, als der, der das Gegenteil verlangt."
Rege Diskussion: Was verbindet uns Menschen?
"Was verbindet uns Menschen eigentlich", will ein Student in der anschließend engagiert geführten Diskussion wissen. Sprache, Geschichte, Verfassung, sagt Wulff und gibt dem Fragenden ein paar kurze Stichworte an die Hand, wohlwissend, dass dieses Thema es verdient hätte, ausführlicher betrachtet zu werden.
"Verhöre meiner Familie waren das Schlimmste"
"Es hat mich gefreut, dass so viele junge Leute hier waren", sagt Wulff am Ende des Abends. Ein letztes Lächeln, ein letzter Blick durch den Schwurgerichtssaal 127. "Die Verhöre meiner Familie waren damals das Schlimmste", sagt er später zu Journalisten. Jetzt aber wirkt der Bundespräsident a.D. versöhnt.