Zwischen Kohle und "grünem Stahl": Salzgitter AG im Wandel

Stand: 20.10.2023 20:53 Uhr

Der Stahlkonzern Salzgitter AG investiert Millionen in einen alten Hochofen - obwohl er tonnenweise CO2 verursacht. Gleichzeitig haben die Bauarbeiten für die Herstellung von "grünem Stahl" begonnen.

von Annette Deutskens

Ingenieurin Tatjana Mirkovic rückt noch einmal den weißen Helm und die Schutzbrille zurecht. Dann kniet sich die 51-Jährige auf ein schmales Brett und wird über ein Rollband langsam durch die Luke geschoben. Mittenrein in den Hochofen A. Normalerweise herrschen hier, in dem riesigen Kessel, Temperaturen um die 1.500 Grad, erzeugt mithilfe von Koks und Kohlenstaub. Aber jetzt ist der Ofen für 100 Tage nicht in Betrieb, er wird generalüberholt - neu zugestellt, wie sie in der Stahlbranche sagen.

VIDEO: Grüner Strom: Baustart für Industrieleitung bei Salzgitter AG (19.09.2023) (1 Min)

Tage des Hochofens sind gezählt

Der alte Hochofen wird für seinen letzten Einsatz fit gemacht - er soll noch einmal zehn Jahre laufen. Und Tatjana Mirkovic und ihre Leute werden diesen Umbau begleiten. Jeden Tag werden eine Million Euro verbaut. "Neuzustellung heißt: Im Hochofen werden mehr als 3.000 Tonnen feuerfestes Material eingebaut", erklärt Mirkovic, "das sind riesige Dimensionen". Riesig ist auch die Menge, die der Hochofen im Normalbetrieb ausspuckt: knapp 6.000 Tonnen Roheisen - pro Tag.

Arbeiter stehen im Hochofen A im Stahlwerk in Salzgitter. © NDR
Der alte Hochofen A spuckt vier Millionen Tonnen CO2 aus - pro Jahr. Nun wird er generalüberholt. Ein letztes Mal soll in ihn investiert werden.
Riesige Baustelle auf dem Konzerngelände

Warum es damit in zehn Jahren trotzdem vorbei sein soll, erklärt Konzernchef Gunnar Groebler im Besucherzentrum des Stahlwerks vor einem schneeweißen Modell. Kleine Windräder drehen sich, Türme in unterschiedlicher Höhe reihen sich aneinander, in grüner Leuchtschrift werden verschiedene Emissionswerte angezeigt. Der alte Hochofen A spuckt vier Millionen Tonnen CO2 pro Jahr aus. Das ist der Grund, warum er bald Geschichte ist und warum es mitten auf dem Konzerngelände seit Kurzem eine riesige Baustelle gibt.

"Wir müssen uns stufenweise verändern"

Stahlhersteller gehören zu den größten CO2-Emittenten überhaupt. Allein der Salzgitter-Konzern ist für ein Prozent der gesamten CO2-Emissionen Deutschlands verantwortlich. Groeblers Job ist es, das zu ändern. Er will den Konzern fit machen für die Produktion von "grünem Stahl", wie die klimafreundlichere Variante genannt wird. Der Hintergrund: strengere politische Vorgaben. "Wir müssen uns stufenweise verändern", erklärt er, "und die bestehende Technologie muss das Geld verdienen, um den Wandel möglich zu machen". Es ist wie in der Automobilindustrie, wo die Verbrenner noch das Geld bringen müssen, um den Wechsel zur Elektromobilität zu finanzieren.

Kosten: Mehrere Milliarden Euro

Um in Zukunft klimafreundlichen Stahl produzieren zu können, tätigt der Konzern die größte Investition in seiner Geschichte: Ein mittlerer einstelliger Milliardenbetrag wird in das Projekt "Salcos" fließen, Bund und Land haben bereits eine Milliarde Euro an Fördermitteln genehmigt, der Konzern selbst legt allein für die erste Ausbaustufe dieselbe Summe noch einmal obendrauf. Das Ziel: Die CO2-Emissionen in der Stahlproduktion um ganze 95 Prozent zu reduzieren. Mit Hilfe von Wasserstoff und Erneuerbaren Energien - statt Kohle und Koks wie bisher.

Blick auf das Stahlwerk in Salzgitter. © NDR
Blick über das Stahlwerk der Salzgitter AG.
Salzgitter braucht 300.000 Tonnen Wasserstoff jährlich

Damit der Stahl am Ende tatsächlich "grün" ist, wird der Stahlkonzern riesige Mengen Wasserstoff brauchen, die mithilfe von Strom aus Sonne und Wind gewonnen werden. In der Übergangsphase soll noch Erdgas eingesetzt werden, aber 2033 sind es dann ganze 300.000 Tonnen Wasserstoff, die der Konzern jährlich braucht. Und den es dann, im Gegensatz zu jetzt, hoffentlich gibt. "Es stimmt, grüner Wasserstoff ist eine Herausforderung", räumt Konzernchef Groebler ein. "Einen kleinen Teil werden wir selbst produzieren und den Rest am Markt beschaffen, so wie wir auch heute Energieträger kaufen. Diesen Markt gibt es zwar noch nicht, aber wir sind mit verschiedenen Playern im Gespräch." Als Kunde sei man interessant, weil die Abnahmemenge riesig sei. Ein weiterer Vorteil: Salzgitter werde Teil eines Wasserstoff-Startnetzes und damit gut an Küstenregionen angebunden sein, wo in Zukunft Wasserstoff ankommen soll.

"Es ist die einzige Option"

In Groeblers weißem Miniatur-Modell funktioniert der neue Weg - und in der Realität? "Die Frage ist nicht, ob dies eine interessante Option für die deutsche Stahlindustrie ist", sagt Nicole Voigt, Stahlexpertin bei der Unternehmensberatung BCG. "Es ist die einzige Option." Die gesamte europäische Stahlindustrie müsse grün werden, also möglichst schnell CO2-frei produzieren. Auch Thyssen Krupp hat diesen Weg daher schon eingeschlagen. Und doch bleibt die alles entscheidende Frage, ob es ausreichend Wasserstoff geben wird, der umweltfreundlich hergestellt wurde. "Der Ausbau der Erneuerbaren Energien ist entscheidend", erklärt Voigt. "Wenn es hier zu Verzögerungen kommt, wird die Stahlindustrie im harten Wettbewerb mit anderen Industrien stehen, die ebenfalls grünen Wasserstoff benötigen." Gut für die Stahlbranche: Die Nachfrage nach grünem Stahl sei groß, Auto- und Haushaltsgerätehersteller stünden schon jetzt Schlange und seien auch bereit, mehr zu zahlen. Groebler bestätigt das, die erste Charge klimafreundlichen Stahls, die 2026 in Salzgitter produziert werden soll, sei schon jetzt verkauft.

Der Zeitplan ist straff

In 41 Metern Höhe, auf einer Plattform außerhalb des Hochofens A, blickt Ingenieurin Tatjana Mirkovic auf die ersten Spuren dieser neuen Stahlwelt. Nur einen Steinwurf entfernt wühlen sich Bagger und riesige Bohrer durch aufgeweichte Erde - das Fundament für den neuen Elektroofen wird vorbereitet. Der Zeitplan ist straff, der Druck ist groß: Weltweit gibt es bisher kein Vorbild, bei dem ein Stahlwerk im laufenden Betrieb in Richtung Klimaschutz umgerüstet wird. Damit das Milliardenprojekt tatsächlich umgesetzt werden kann, ist die Arbeit von Tatjana Mirkovic entscheidend: "Ihr" Hochofen verdient das Geld, mit dem der Wandel finanziert wird. Deshalb müssen auch sie und ihre Leute sich sputen. Damit nach 100 Tagen wieder heißes Roheisen aus ihrem überarbeiteten Hochofen fließt. Und am Ende als Stahl möglichst teuer verkauft werden kann.

Dieses Thema im Programm:

Hallo Niedersachsen | 20.10.2023 | 19:30 Uhr

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