Göttinger Anatomie stellt sich dunkler Vergangenheit

Stand: 20.08.2024 19:19 Uhr

In Göttingen sind am Dienstag bundesweit erstmals Embryonen bestattet worden, die aus einer Sammlung mit Bezügen zum Nationalsozialismus stammen. Vorausgegangen war eine genaue Untersuchung der Blechschmidt-Sammlung in der Göttinger Anatomie.

von Sofia Leikam

Michael Markert steht in einem kleinen Raum im Keller der Anatomie in der Universitätsmedizin Göttingen. Der Wissenschaftshistoriker blättert in Archivunterlagen der Blechschmidt-Sammlung. Vor einigen Jahren hat er hier in jeden Schrank geschaut - jedes Dokument in der Hand gehalten. 2017 hatte ihn die Universitätsmedizin Göttingen damit beauftragt, die Herkunft der Embryonen und Föten in der Sammlung zu untersuchen. "Ein zentrales Ergebnis der Forschung ist, dass nicht ausgeschlossen werden kann, dass sich in der Sammlung Präparate aus Zwangsabtreibungen während des Nationalsozialismus befinden", sagt Markert.

Die Blechschmidt-Sammlung: "Auf der ganzen Welt ein Begriff"

Christoph Viebahn leitet die Sammlung seit Jahren und war bis vor Kurzem auch der Leiter der Anatomie in Göttingen. © NDR Foto: Sofia Leikam
Christoph Viebahn leitet die Sammlung seit Jahren und war bis vor Kurzem auch Leiter der Anatomie in Göttingen.

Die Blechschmidt-Sammlung umfasst Hunderte menschliche Embryonen und Föten aus verschiedenen Schwangerschaftswochen, sowie überlebensgroßen Embryo-Modelle. Diese Modelle sind weltweit einzigartig. "Wenn sie unter Embryologen nachfragen auf der ganzen Welt, dann sind Göttingen und Blechschmidt ein Begriff", sagt Christoph Viebahn, Professor für Anatomie, der die Sammlung seit Jahren leitet.

Erich Blechschmidt: Anatom mit umstrittener Vergangenheit

Der Gründer der Sammlung, Erich Blechschmidt (1904-1992), hat allerdings eine mindestens fragwürdige Vergangenheit. 1942 kommt er nach Göttingen und leitet mehr als 30 Jahre das Anatomische Institut. Während des Nationalsozialismus nutzt er die Körper von hingerichteten NS-Opfern für seine Forschung, das ist wissenschaftlich belegt. Parallel dazu beginnt er, seine embryologische Sammlung aufzubauen. Einige Embryonen stammen dabei offenbar aus Krankenhäusern, in denen Zwangsabtreibungen an Zwangsarbeiterinnen durchgeführt wurden. Michael Markert vermutet, dass solche Embryonen auch in der Göttinger Sammlung landeten.

Kein gezieltes Abtreibungs-Programm

Die Ergebnisse von Michael Markert sind auch für Christoph Viebahn, Professor der Anatomie, wichtig: "Es wurde bestätigt, dass es Zufallsbefunde sind und kein geplantes Programm." Denn lange stand der Vorwurf im Raum, Blechschmidt habe Abtreibungen gezielt in Auftrag gegeben, um an Embryonen zu kommen. Das konnte Michael Markert widerlegen. Zwangsabtreibungen wurden im Nationalsozialismus in bestimmten Fällen angeordnet. Blechschmidt mit seiner Sammlung: kein Einzelfall unter Anatomen. Auch wenn die Handlungen Blechschmidts im historischen Kontext zu sehen sind, bleiben viele ethische Zweifel an der Herkunft der Präparate bestehen.

Ethische Fragen reichen bis in die Gegenwart

Der Wissenschaftshistoriker Michael Markert. © NDR Foto: Sofia Leikam
Der Wissenschaftshistoriker Michael Markert wurde beauftragt, die Herkunft der Embryonen in der Sammlung zu untersuchen.

Die Bedenken reichen weit über die NS-Zeit hinaus, so Markert. Von keiner Frau läge eine Einverständniserklärung vor, sagt der Wissenschaftshistoriker, auch das habe seine Forschung ergeben. Blechschmidt sammelte Embryonen bis in die 1970er-Jahre. Meist von Patientinnen aus dem Göttinger Raum. "Es gab irgendwann im Laufe des Projekts den Punkt, da habe ich realisiert: Wenn ich durch Göttingen laufe, begegne ich vermutlich Patientinnen, von denen ich auch Präparate untersuche", sagt Markert.

Empfehlung: Bestattung der Embryonen

Aufgrund der zahlreichen ethischen Bedenken hatte Michael Markert in seinem Bericht empfohlen, die meisten Embryonen zu bestatten. Fünf Jahre nach seinem Gutachten erfolgte nun die erste Beisetzung von 14 Embryonen auf einem Friedhof in Göttingen. Christoph Viebahn erklärt die Verzögerung mit den Anforderungen des Lehr- und Forschungsbetriebs: "Wir nehmen die Empfehlung sehr ernst und es ist mir ein Anliegen, das auch durchzuführen, nur ist es eben aufwendig." Denn für jede Bestattung seien Einzelfallprüfungen notwendig, "weil wir sonst in der Anatomie Individuen einzeln betrachten und wenn sie bestattet werden, ist das was Endgültiges, davor wollen wir ganz sicher sein, die richtige Person zu bestatten", so der Anatomieprofessor. Zudem habe Corona eine Umsetzung verzögert.

Nur ein Anfang - Hunderte Embryonen könnten folgen

Der Göttinger Anatomieprofessor Viebahn betont, dass die heutige Beisetzung nur ein Anfang sei. Nach einer gründlichen Überprüfung könnten Bestattungen von rund 200 weiteren Embryonen und Föten folgen.

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Dieses Thema im Programm:

Hallo Niedersachsen | 20.08.2024 | 19:30 Uhr

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