Massive Kritik nach großem Polizeieinsatz in Brennpunkt-Hochhaus
Die Stadt Göttingen hat in Begleitung Hunderter Polizisten am Dienstag einen als prekär geltenden Wohnblock begutachtet. Die Kritik an dem Vorgehen von Stadt und Polizei verstummt auch am Tag danach nicht.
Gespräche mit den Bewohnern auf "freiwilliger Basis" und ein Polizeieinsatz schließen sich aus, kritisierte der Göttinger SPD-Stadtverband. Die Bewohner seien durch den Polizeieinsatz pauschal diskriminiert worden. Damit grenzt sich der Stadtverband von Oberbürgermeisterin Petra Broistedt ab, die ebenfalls SPD-Mitglied ist.
Morgens um 6 Uhr: Mehrere Hundertschaften der Polizei am Wohnblock
Was war passiert? Am Dienstag rückt die Polizei nach eigenen Angaben um 6 Uhr morgens mit mehreren Hundert Einsatzkräften zu dem Wohnblock aus. Drohnen kreisten demnach über dem Gebäude. Sieben Wohnungen wurden durchsucht, fünf Haftbefehle vollstreckt, wie die Polizei mitteilte. Danach führt die Stadt eine Ortsbegehung in dem als prekär geltenden Komplex durch. Es geht um Rettungswege und Brandschutz, Baumängel und Schädlingsbefall. Immer wieder hätten sich Mieter über die Verhältnisse in der Immobilie beschwert, sagte Oberbürgermeisterin Broistedt am Dienstag.
Stadt wollte sich "klaren Überblick" verschaffen
Um helfen zu können, benötigt die Stadt laut Sozialdezernentin Anja Krause einen klaren Überblick. Ziel der Aktion war es demnach, mit den Bewohnerinnen und Bewohnern des Wohnblocks am Rand der Innenstadt ins Gespräch zu kommen. Viele Bewohnerinnen und Bewohner hätten sich gefreut, dass die Stadt etwas an den schlechten Wohnverhältnissen ändern wolle, sagte Krause. Insgesamt sei der Einsatz ruhig verlaufen.
Grüne kritisieren "massiven Einsatz im Morgengrauen"
Die oppositionelle Ratsfraktion der Göttinger Grünen stellte das Vorgehen der Stadt angesichts des großen Polizeiaufgebots infrage. "Es ist gut, dass wir uns endlich den Wohnverhältnissen in der Groner Landstraße 9 zuwenden und dass die Bewohnbarkeit des Hauses Priorität bekommt und wir nicht mehr tatenlos zusehen - aber dafür ein solch massiver Einsatz im Morgengrauen?", kritisierte Fraktionsvorsitzende Susanne Stobbe. Zwar entscheide die Polizei über die Anzahl an Einsatzkräften, die "Verhältnismäßigkeit und der Umgang mit den Bewohnenden" seien jedoch Aufgabe der Stadtverwaltung. Die Perspektive der Bewohnerinnen und Bewohner sei in diesem Fall nicht ausreichend mitgedacht worden, sagte Kerstin Sennekamp, Mitglied des Grünen-Stadtvorstands. Für Personen, die aus einem Land kommen, in dem Polizeigewalt zum Staatsapparat gehöre, könne ein solcher Einsatz retraumatisierend sein. Die ebenfalls oppositionelle Ratsfraktion der Linken bezeichnete das Vorgehen als retraumatisierend und stigmatisierend.
CDU bewertet Polizeieinsatz als "behutsam" und "angemessen"
Die Göttinger CDU hingegen begrüßte den Einsatz von Stadt und Polizei. Das Vorgehen sei geordnet und professionell gewesen, sagte die Stadtverbandsvorsitzende und Landtagsabgeordnete Carina Herrmann dem NDR Niedersachsen. Auch der Göttinger CDU-Bundestagsabgeordnete Fritz Güntzler teilte mit, er stehe voll und ganz hinter Polizei, Staatsanwaltschaft und Stadt, die behutsam und angemessen vorgegangen seien.
Erhebliche Mängel in Wohnungen festgestellt
Bei der Begehung wurden bauliche Mängel und Ungezieferbefälle festgestellt, wie Sozialdezernentin Krause mitteilte. Mit den gewonnenen Erkenntnissen könne die Stadt nun im Zuge des Niedersächsischen Wohnraumschutzgesetzes die Eigentümerin in die Pflicht nehmen. Das Gesetz war 2021 von der Landesregierung verabschiedet worden, damit Kommunen gegen prekäre Wohnverhältnisse vorgehen können. Stadt und Polizei hatten den Großeinsatz zunächst damit begründet, dass es in der Vergangenheit Erfahrungen mit teils aggressiven Bewohnern gegeben habe. Der Einsatzleiter der Polizei, Rainer Nolte, betonte, es sei nicht darum gegangen, die Bewohnerinnen und Bewohner zu kriminalisieren. Dennoch wurden gestohlene E-Bikes, Kleidung und Kosmetika beschlagnahmt, wie die Polizei mitteilte.
Hinweise auf bandenmäßigen Diebstahl von Fahrrädern
In dem Block seien immer wieder gestohlene Fahrräder per GPS geortet worden, teilte die Polizei dem NDR Niedersachsen mit. "In Göttingen sind allein im letzten Jahr 2.599 Fahrraddiebstähle registriert worden. Das bedeutet ein Zuwachs von 42 Prozent gegenüber dem Vorjahr", sagte eine Sprecherin. "Bei diesen Zahlen handelt es sich nicht mehr um Einzelfälle, so dass auch wegen möglichen bandenmäßigen Diebstahls beziehungsweise organisierter Kriminalität ermittelt wird. Eine zentrale Rolle spielt dabei auch der Gebäudekomplex Groner Landstraße, der immer wieder bei GPS-Ortungen von Fahrraddiebstahlsopfern auftaucht."
Aktivisten: "Sind empört über dieses Vorgehen"
Kritik an dem Polizeieinsatz kam schon am Dienstag vom Rechtsberater des Deutschen Mieterbundes Göttingen, Nils Spörkel. Er schrieb auf dem Kurznachrichtendienst X: "Das Wording der Göttinger Polizei erklärt nicht einmal im Ansatz, warum ohne jede Vorwarnung mehrere Hundertschaften überfallartig noch vor Sonnenaufgang den Komplex besetzt haben." Seiner Ansicht nach verfolgen die Behörden andere als die offiziell genannten Ziele - auch "strafprozessualer Natur". Aktivisten wollen beobachtet haben, wie etwa 200 maskierte Polizistinnen und Polizisten das Gebäude stürmten. Sie bezeichneten das Vorgehen als rassistisch und martialisch. "Wir sind empört über dieses Vorgehen und die Achtlosigkeit der Stadt und Polizei Göttingen im Umgang mit einem Wohnkomplex, in dem vor allem Familien zu Hause sind", sagte eine Sprecherin der Gruppierung Basisdemokratische Linke. Am Dienstagnachmittag hatten Dutzende Menschen bei einer spontanen Kundgebung vor dem Rathaus demonstriert.