Widerspruch nötig: Pflegegrad wird oft zu niedrig eingestuft
Mehr als eine halbe Million Menschen sind in Niedersachsen pflegebedürftig, viele haben einen Pflegegrad. Doch dieser wird nicht selten zu niedrig eingestuft - und Versicherte erhalten zu wenig Geld.
Der Pflegegrad bestimmt, welche Leistungen der Versicherte von seiner Pflegekasse erhält. Einen Pflegegrad zu beantragen, sei nicht einfach, erzählt Annette Krämer. Die 65-Jährige aus dem Heidekreis hat bei einem Motorradunfall ihr linkes Bein verloren. 25 Jahre ist dieser Unfall nun her. Aber erst vor zwei Jahren war sie gedanklich bereit, einen Pflegegrad zu beantragen. "Einen Antrag zu stellen ist auch eine Kopfsache", sagt sie. "Weil man dann schwarz auf weiß sieht, dass man pflegebedürftig ist." Als sie den Bescheid von ihrer Pflegekasse erhält, ist ihr schnell klar: Das passt nicht. Ihr Pflegegrad müsste höher sein. Annette Krämer holt sich Hilfe vom Sozialverband SoVD. Sie widerspricht und bekommt recht.
Mehr als jeder zweite Widerspruch erfolgreich
Die Geschichte von Annette Krämer ist eine von vielen. Der SoVD Niedersachsen hat in den vergangenen Jahren vermehrt Widerspruchsverfahren begleitet. Die Erfolgsbilanz: Allein 2022 waren 60 Prozent von insgesamt 820 Widerspruchsverfahren für Versicherte erfolgreich. Das bedeutet, der Pflegegrad wurde hochgestuft. Die Pflegebedürftigen hatten Anspruch auf mehr Leistungen von der Pflegekasse.
Fehler bei der Pflegebegutachtung
Katharina Lorenz leitet die Abteilung Sozialpolitik beim SoVD Niedersachsen. In den Gesprächen mit den Versicherten habe sie mitbekommen, dass vor allem bei der Pflegebegutachtung durch den Medizinischen Dienst schon Fehler passieren. "Fragen werden nicht richtig gestellt, Gutachter nehmen sich zu wenig Zeit für die Versicherten, und die Situation bei den Pflegebedürftigen zu Hause wird nicht gut genug eingeschätzt", sagt Lorenz. So könne der Pflegebedarf oft nicht korrekt eingestuft werden.
"Kein kleines Versehen in der breiten Masse"
Ähnliches beobachtet Florian Specht. Er hat in Hannover das Unternehmen Pflegewächter gegründet. Sein Team unterstützt Versicherte von der Beantragung eines Pflegegrads bis hin zum Widerspruch. Der Service ist für die Versicherten kostenfrei. "Die Kunden müssen für unsere Unterstützung im Widerspruchsverfahren nichts zahlen, weil die Pflegekasse gesetzlich verpflichtet ist, die Kosten einer anwaltlichen Tätigkeit bei einem erfolgreichen Widerspruch zu übernehmen. Im Misserfolgsfall tragen wir die Kosten unserer Anwälte selbst. Das geht sehr gut, weil wir die allermeisten Fälle gewinnen", sagt Specht. In drei von vier Fällen bekommen die Versicherten am Ende einen höheren Pflegegrad. "Wir springen im Schnitt um mehr als einen Pflegegrad", sagt Specht. "Das ist dann auch kein kleines Versehen in der breiten Masse."
Pflegekasse entscheidet über Pflegegrad
Wer in Deutschland einen Pflegegrad beantragen will, muss Kontakt zu seiner Pflegekasse aufnehmen. Diese allein beauftragt den Medizinischen Dienst, damit dieser ein Gutachten erstellt. Die Gutachter schätzen den Pflegebedarf des Versicherten ein. Das machen sie vor Ort oder seit der Corona-Pandemie zum Teil auch nur am Telefon. Das Gutachten geht zurück an die Pflegekasse. Denn diese entscheidet am Ende, welchen Pflegegrad der Versicherte bekommt.
Pflegegutachten ist ausschlaggebend
Die Pflegekassen müssen dabei nicht zwingend dem Gutachten folgen. Aber: "Wir weichen von der Einschätzung des Medizinischen Dienstes nur bei offensichtlichen Fehlern ab", teilt die AOK Niedersachsen mit. In den meisten Fällen folgen die Pflegekassen der Empfehlung des Medizinischen Dienstes. Deshalb sehen die Kassen die Fehlerquelle auch dort.
Medizinischer Dienst: Widerspruchsgutachten sind die Ausnahme
Der Medizinische Dienst in Niedersachsen prüfe selbst regelmäßig die Qualität seiner Gutachten, sagt Kathrin Federmeyer. Sie leitet den Geschäftsbereich Pflegeversicherung. Dass es zuletzt vermehrt zu falschen Einschätzungen des Pflegegrades kam, kann sie nicht bestätigen. "Der Anteil an Widerspruchsbegutachtungen ist sehr gering", sagt Federmeyer. Bei mehr als 350.000 Gutachten im Jahr 2022 sollte der Medizinische Dienst demnach nur in 5,5 Prozent der Fälle ein erneutes Gutachten erstellen.
Gutachter kommt: Versicherte sollten sich gut vorbereiten
Damit das Gutachten den tatsächlichen Pflegebedarf widerspiegeln kann, müssten Versicherte auch alle Karten auf den Tisch legen. "Unsere Gutachter können auch nur die Informationen bewerten, die ihnen vorliegen", sagt Federmeyer. Sie empfiehlt Versicherten deshalb, sich auf den Begutachtungstermin gut vorzubereiten. "Es hilft auch immer, wenn eine vertraute Person bei dem Gespräch dabei ist." Das sieht unter anderem auch der SoVD so. Professionelle Hilfe, die beispielsweise auch Pflegedienste anbieten, sei beim Antrag eines Pflegegrades zu empfehlen.
Widerspruch heißt: Alles muss noch einmal gesagt werden
Annette Krämer hatte sich auf ihre Pflegebegutachtung vorbereitet und auch alles gesagt, erzählt sie. Dennoch wurde in ihrem Gutachten ein wichtiger Aspekt, die psychische Belastung nach dem Unfall, kaum berücksichtigt. "Ich weiß genau, dass ich gesagt habe, dass ich überhaupt nicht schlafen kann. Das ist völlig unter den Tisch gefallen", erzählt die 65-Jährige. Durch den Widerspruch gab es ein erneutes Gespräch mit einem anderen Gutachter des Medizinischen Dienstes. Diesmal wurden alle Aspekte berücksichtigt. Annette Krämer hätte es sich aber gern erspart, noch einmal alles preisgeben zu müssen. "Es geht ja auch ins Intime. Es gibt viele Dinge, die man nicht unbedingt dauernd wiederholen möchte", sagt sie. Ihr Fazit aus der Geschichte gleicht dennoch ihrem Lebensmotto: Kämpfen lohnt sich.