Syrer im Norden: Zwischen Heimatgefühlen und Aufbruchstimmung
Seit dem Sturz des Assad-Regimes leben syrische Familien in Norddeutschland im Ausnahmezustand. So wie die Alsahos aus Zetel bangen, hoffen oder planen sie eine Rückkehr - irgendwo zwischen dem neuen Zuhause im Norden und der alten Heimat Syrien.
Die syrische Fahne hängt im Fenster, daneben glitzert der Weihnachtsbaum. Wer Familie Alsaho in der niedersächsischen Gemeinde Zetel besucht, erlebt eine Familie zwischen zwei Welten. In der Küche wird syrischer Kaffee gekocht und der Schulalltag der kommenden Woche geplant. Jetzt, so kurz vor Weihnachten, wird gewichtelt in der Schule. Es fehlen noch Weihnachtsgeschenke.
Vor Rührung auf die Knie gefallen
Im Wohnzimmer aber, da bleibt die norddeutsche Heimat in diesen Wochen vor der Tür. Nonstop flimmert hier der Fernseher, die Familie verfolgt gebannt die Berichte aus Syrien. Als die Nachricht vom Sturz Assads das niedersächsische Wohnzimmer erreichte, fiel Familienvater Saleh Alsaho vor Rührung auf die Knie, umarmte dann alle seine Liebsten: die Töchter, die Söhne, seine Ehefrau. Zuerst kam die Euphorie, dann die vielen glücklichen, aber auch traurigen Nachrichten von Freunden und Bekannten aus der alten Heimat. Wer hat überlebt und wer nicht? Wer wird noch vermisst?
Erinnerungen an den syrischen Widerstand
Mittlerweile hat sich die Euphorie etwas gelegt, stattdessen kreisen die Gedanken der Alsahos nun auch um das Thema Rückkehr. 2015 waren sie aus Syrien geflohen. Die ältesten Töchter erinnern sich noch an die alte Heimat, waren als Kinder sogar mit ihrem Vater beim syrischen Aufstand gemeinsam auf der Straße.
Die Erinnerungen der jüngeren Söhne jedoch verblassen. Gemeinsam, als Familie, sind sie mittlerweile auch hier heimisch geworden, in der niedersächsischen Gemeinde Zetel im Landkreis Friesland. Die Kinder sprechen fließend Deutsch, gehen zur Schule, kicken im Fußballverein.
Aufbruchstimmung in der Familie
Dennoch kribbelt es beim Anblick der Fernsehbilder jetzt allen in den Fingern. Die 20-jährige Sham Alsaho beschreibt die unterschiedliche Stimmung unter den sechs Geschwistern so: "Ich will super gerne wieder zurückgehen und auch dort was aufbauen. Meine zwei Schwestern auch. Die Jungs zum Beispiel denken da eher anders. Die sind auch hier groß geworden. Die kennen kein anderes Zuhause. Das ist für sie ihre Heimat. Sie haben hier ihre Freunde, ihre Schule."
Der Vater, Saleh Alsaho, hat in Syrien als Ingenieur gearbeitet. In Deutschland betreibt er eine Reinigungsfirma. Irgendwann will er zurückkehren: "Natürlich will ich das. Aber das ist keine einfache Entscheidung. Syrien braucht noch mehr Zeit. Ich will meine Heimat Syrien aufbauen. Und ich will, dass alle meine Freunde das neue Syrien, unser Traumland, wieder aufbauen." Es kann noch dauern, bis die Lage in ihrem "Traumland" wieder überschaubarer wird, glauben die Alsahos. Noch gebe es kaum Strukturen, man müsse abwarten.
"Demokratie war schon immer ein Traum"
Wann der Zeitpunkt einer Rückkehr gekommen ist, hängt für Saleh Alsaho auch von seinen Kindern ab. Schließlich sind die hier gut integriert. Seine Tochter Sham Alsaho tritt in Papas politische Fußstapfen und bringt sich seit einiger Zeit demokratisch ein, im Jugendparlament der Gemeinde Zetel. Sie erklärt ihre Motivation dafür so: "Wir haben ja immer von der Demokratie gelesen, zuhause, in Syrien. Aber wir haben es nie erlebt. Das stand nur in Büchern oder auf Aufschriften. Deswegen: Demokratie war schon immer ein Traum. Wie ist es, gewählt zu werden? Wie ist es, sich aufstellen zu dürfen?"
Im Jugendparlament kann sie diese Erfahrungen nun machen, geht neben der Schule im Rathaus ein und aus. Doch bei all dem Engagement in der neuen Heimat vergisst sie auch nie ihr anderes Zuhause, sammelte gemeinsam mit der Gemeinde schon Geld für Syrien. Sham möchte in Deutschland studieren, später vielleicht mal zwischen den beiden Ländern pendeln, Brücken bauen. Man kann ihr die Euphorie angesichts dieser neuen Situation förmlich ansehen.
"Rückkehr": Hasserfüllte Kommentare bei TikTok
Ihre jüngere Schwester Shahd wiederum hat die Geschehnisse in der alten Heimat auf ihre ganz eigene Weise verarbeitet. In TikTok-Videos. Eines davon ging viral, darin tanzt sie mit der ganzen Familie in Wohnzimmer, der humorvolle Untertitel: "Bald sprechen wir Deutsch in Damaskus“.
2,7 Millionen Aufrufe hat das Video mittlerweile. Doch neben belustigten und positiven Reaktionen wird sie dort auf eine ganz andere, hasserfüllte Weise auch mit dem Thema "Rückkehr" konfrontiert. Die Kommentarspalte strotzt vor negativen und hämischen Kommentaren, die der ganzen Familie einen "guten Flug" zurück nach Syrien wünschen. Für die 19-jährige Shahd Alsaho, die sich hier zuhause fühlt, ein Schock: "Das war das erste Mal, dass ich überhaupt so was erlebe." Einen Tag lang sei sie sogar nicht in die Schule gegangen, weil der Hass sie so mitgenommen habe.
Den Zeitpunkt einer möglichen Rückkehr kann die syrische Familie mittlerweile aber selbst bestimmen, ganz unabhängig von politisch geführten Abschiebedebatten oder hämischen Social-Media-Kommentaren. Saleh Alsaho und seine Töchter sind mittlerweile auch deutsche Staatsbürger. Im Februar dürfen sie das erste Mal bei der Bundestagswahl wählen.