SPD und Grüne wollen queeres Leben sichtbarer machen
Die beiden Regierungsfraktionen reagieren auf die steigende Zahl an Straftaten gegen queere Menschen und wollen deshalb unter anderem die Verfassung ändern. Doch der Antrag sorgt für Kritik.
Niedersachsen ist im Ländervergleich das Schlusslicht, was die Schutzmaßnahmen von queeren Menschen anbelangt. Das hat erst kürzlich eine OECD-Studie ergeben. SPD und Grüne wollen deshalb einen Landesaktionsplan auf den Weg bringen. Swantje Schendel (Grüne) machte am Freitag im Landtag deutlich: "Es ist beschämend und schmerzlich, dass wir in Niedersachsen - in unserer Mitte - immer noch von Fällen hören, in denen Menschen aufgrund ihrer Liebe oder ihrer Identität beleidigt, bedroht und angegriffen werden." Das spiegele nicht die Werte der Gesellschaft wider. Es sei die Pflicht der Regierung, Menschen zu schützen, sagte die Grünen-Politikerin. Der Antrag "ist der erste Schritt auf dem Weg, der uns alle zu einem Ziel führt: einer Gesellschaft, die Vielfalt nicht nur toleriert, sondern als selbstverständlich erachtet".
CDU hält Antrag für überflüssig
Sophie Ramdor (CDU) kritisierte, dass SPD und Grüne einen Antrag eingebracht hätten, der längst im Sozialausschuss diskutiert werde. Das sei "Showpolitik für die Wählerschaft". Die AfD stellte sich komplett gegen den Antrag. Sie beharrte darauf, dass es "nur Männer und Frauen" gebe. Queer sei ein politischer Kampfbegriff.
Konkret geht es SPD und Grünen um zwölf Punkte. Darunter unter anderem:
- Eine Verfassungsänderung zum Schutz vor Diskriminierung
- Den Prüfauftrag, Beratungsangebote für queere Menschen im ländlichen Raum auszubauen
- Fortbildungen im Bildungsbereich
- Schulrechtliche Vorgaben zum sensiblen Umgang mit trans-, inter- und nicht-binären Schülerinnen und Schülern
- Unterstützung der Kommunen bei Schutzkonzepten
- Die konsequente Umsetzung der sogenannten Dritten Option in allen Bereichen der Landesverwaltung
Dritte Option müsste längst umgesetzt sein
Was es bedeutet, wenn man in Formularen nur die Option hat, männlich und weiblich auszuwählen, weiß Anjo Kumst vom Verein Intergeschlechtliche Menschen Niedersachsen. "Immer dann, wenn ich mich einem von beiden zuordnen muss, spüre ich die Diskriminierung. Denn für mich trifft beides nicht zu." Anjo Kumst ist mit weiblichen und männlichen Geschlechtsmerkmalen auf die Welt gekommen, wurde "als Kind weiblich gedacht" und hat einen weiten Weg hinter sich. Erst seit 2019 gibt es für Anjo Kumst die Möglichkeit, statt "männlich" oder "weiblich" die Option "divers" als Personenstand im Ausweis anzugeben oder das Feld ganz freizulassen. Doch in Formularen geht das noch immer nicht überall. Für Anjo Kumst etwas, das schon längst hätte umgesetzt werden müssen - dass darüber auch 2023 noch diskutiert werden muss, ist für Anjo Kumst unverständlich. "Im Endeffekt wünsche ich mir keine Sichtbarkeit, ich wünsche mir eine Selbstverständlichkeit."
Queeres Netzwerk hält Pläne für nicht ausreichend
Auch das Queere Netzwerk Niedersachsen sieht den Antrag der beiden Regierungsfraktionen gespalten. Einerseits sei es gut, dass der Antrag so viele Punkte umfasse, sagte Mareike Walther. "Eine Erweiterung der Landesverfassung um einen Diskriminierungsschutz wäre in Zeiten rückläufiger gesellschaftlicher Unterstützung für die Rechte queerer Menschen ein wichtiges Signal." Aber Walther übte auch Kritik: Dass eine Fachstelle für queerfeindliche Gewalt und ein "dringend notwendiges Beratungsangebot" nur geprüft werden sollen, sei nicht ausreichend. Das Fazit: Von einer rot-grünen Landesregierung habe man sich deutlich mehr erhofft.
Zahl der Straftaten steigt an
Die Angriffe auf queere Menschen nehmen zu. Laut der polizeilichen Kriminalstatistik gab es im vergangenen Jahr 94 Straftaten, bei denen die sexuelle Identität oder Orientierung das Tatmotiv war. 2021 waren es 60 Fälle. Die Dunkelziffer dürfte laut Expertinnen und Experten größer sein. Auch Anjo Kumst bemerkt das in der öffentlichen Arbeit. "Ich befürchte schon, dass ich mich in Zukunft nicht mehr so offen äußern werde." Damit das nicht der Fall ist, müsse politisch mehr getan werden.