Gelebte Inklusion: Wohngemeinschaft in Georgsmarienhütte
Im Landkreis Osnabrück ist ein Wohnprojekt mit Vorbildcharakter entstanden: Hier wohnen sieben Menschen mit Behinderung ganz selbstbestimmt in einer WG statt in einer klassischen Pflege-Einrichtung.
Sie nennen sich "Die Mutigen". Sieben junge Menschen mit körperlichen oder psychischen Beeinträchtigungen leben in Georgsmarienhütte im Landkreis Osnabrück in einer WG zusammen. Üblicherweise wären sie in einer Pflegeeinrichtung untergekommen, aber hier leben sie nahezu unabhängig mit ein bisschen Unterstützung. Dafür haben ihre Eltern lange gekämpft, einen Verein gegründet und eine komplette Finanzierung auf die Beine gestellt.
Vertrauen in die Selbständigkeit ist grundlegend
Es ist ein ganz klassischer WG-Alltag bei den "Mutigen" in Georgsmarienhütte. In der Gemeinschaftsküche bereiten die Bewohnerinnen das Abendessen vor: Tisch decken, Paprika in Streifen schneiden. Sie helfen sich gegenseitig. Nur im Notfall unterstützt eine Betreuerin: "Christina, Carolin? Haben wir alles oder fehlt noch was?", fragt sie in die Runde. Dann bittet sie Christina, Ebru etwas zur Hand zu gehen - und das war es auch schon mit der Unterstützung. Alles weitere machen die Bewohnerinnen weitestgehend selbständig - teilweise sogar, ohne miteinander zu sprechen.
Mutiger Schritt ins eigene Leben
Die vier jungen Frauen Ebru, Carolin, Nadine und Christina sind Teil der der WG "Die Mutigen". Im ersten Stock wohnen ihre drei männlichen Mitbewohner. Einer von ihnen ist der 32-jährige Dominik Raupach. Seine Mitbewohner Marcel und Andre und seine Betreuerinnen Karin und Conni nennt er allesamt seine Freunde. "Die Mutigen" haben sie sich selbst genannt, weil sie so mutig waren, zu Hause auszuziehen - weg von den Eltern. Jede und jeder hier hat ein eigenes großes Zimmer. Es ist ungefähr 30 Quadratmeter groß und individuell eingerichtet. Dominik Raupach zeigt stolz sein Reich: "Jedes Zimmer hat sogar ein eigenes Badezimmer und eine Dusche. Das ist mein Küchenbereich. Heute gab es Bananenkuchen. Wir wohnen hier schon seit zwei Jahren und es ist sehr schön", findet er.
Gut durchdachte Eltern-Initiative
Vormittags sind die Bewohnerinnen und Bewohner bei der Arbeit in verschiedenen Werkstätten. Nach Feierabend beginnt das WG-Leben. Die Rollen sind klar verteilt - zumindest wenn man Marcel Frankenberg fragt. Mit 26 Jahren ist er der jüngste Bewohner: "Ich sauge hier ganz oft und räume auch die Spülmaschine aus. Ich bin der Fleißigste hier", sagt er. Mindestens zwei Betreuer sind immer vor Ort um das "Selbstständig-Sein" zu unterstützen. Auch nachts sind die sieben hier nie allein. Das Projekt ist eine Eltern-Initiative. Als Verein kümmern sich die Mütter und Väter um das Komplettpaket: Sie sind Mieter der Wohnungen und Arbeitgeber der insgesamt rund 20 Betreuer. Die meisten hier arbeiten auf 520 Euro-Basis, als Mini-Jobber. Sie bekommen etwas mehr als den Mindestlohn pro Stunde. Eng wird es manchmal in den Ferien, wenn alle Betreuenden gleichzeitig in den Urlaub fahren wollen. Dann springen die Eltern ein und organisieren sich untereinander.
Mehr Selbstbewusstein durch Eigenständigkeit
Für die Vereins-Vorsitzende Birgit Gawol ist es ein Herzensprojekt. Ihre Tochter Nadine, eine der Bewohnerinnen, hat autistische Züge und spricht nicht. Vor dem Einzug in die WG hat sie sehr an ihren Eltern gehangen, wie die Mutter erzählt: "Es war immer eine Horrorvorstellung für mich, dass mir oder meinem Mann mal was passiert." Aber wenn sie ihre Tochter jetzt sehe, mache sie sich keine Sorgen mehr. Sie sei durch das Wohnprojekt viel selbstbewusster geworden, gehe auf andere Menschen zu. "Das hat sie wirklich nie gemacht", erzählt Birgit Gawol weiter. "Und da weiß ich wirklich, dass ihr das Wohnprojekt gut tut und sie hier glücklich ist."
Ein harter Kampf, der sich gelohnt hat
Zur Finanzierung des Wohnprojekts wird alles Geld, das die Bewohner über Pflegestufen und sonstige Zuwendungen bekommen, in einen Topf geworfen. Für die Eltern fallen keine weiteren Kosten an. Auch Spendengelder tragen dazu bei. Die müssen sie sich aber teils mühsam erkämpfen, erzählt Christine Raupach, die Mutter von Dominik. Doch letztendlich wissen sie, wofür sie das alles tun: "Der Antrieb ist, dafür zu sorgen, dass es dem Kind gut geht. Mein Sohn hat auch ganz klar gesagt: Mama, ich will hierbleiben bis ich sterbe." Das zeige ihr nach zwei Jahren, dass er im Wohnprojekt angekommen ist. Ihr Sohn Dominik kann das nur bestätigen: "Es ist schon was besonderes für mich, so selbstständig zu wohnen. Das ist besser als zu Hause und wir haben auch immer Spaß." Mehr als zehn Jahre haben die Eltern für das alles gekämpft, um ihren Kindern, trotz der Einschränkungen, ein eigenständiges Leben zu ermöglichen.