Krieg in der Ukraine: Ein Viertel der Geflüchteten hat Jobs

Stand: 23.02.2024 09:02 Uhr

Zwei Jahre nach Beginn des Angriffskrieges Russlands finden immer mehr Ukrainerinnen und Ukrainer in Niedersachsen Arbeit. Die Beschäftigungsquote ist insgesamt aber noch niedrig. Woran liegt das?

von Anja Datan-Grajewski

Die gute Nachricht: Im November 2023 waren in Niedersachsen 15.500 ukrainische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger sozialversicherungspflichtig beschäftigt und damit 4.900 mehr als im Vorjahr. Das sind die - erst einmal erfreulichen - aktuellen Zahlen des Niedersächsischen Ministeriums für Soziales. Die schlechte Nachricht: Die Beschäftigungsquote ukrainischer Staatsangehöriger in Niedersachsen beträgt nur 25,3 Prozent. Bei Männern liegt sie mit 29,7 Prozent höher als bei Frauen, von denen nur 20,3 Prozent einer sozialversicherungspflichtigen Arbeit nachgehen.

Gründe für die geringe Beschäftigungsquote

Die Deutschkenntnisse, aber auch die fehlende Anerkennung der ukrainischen Abschlüsse seien die Hauptgründe dafür, sagt Sigmar Walbrecht, der beim Niedersächsischen Flüchtlingsrat für den Bereich "Arbeitsmarktzugang" zuständig ist. Über 60 Prozent der 111.585 in Niedersachsen vom Ausländerzentralregister erfassten ukrainischen Staatsbürger sind weiblich, viele davon alleinstehend. "Diese Frauen haben oftmals Schwierigkeiten, Kinderbetreuung und Besuch eines Sprachkurses oder Arbeit zu vereinbaren, weil nicht selten Kinderbetreuung nicht organisiert werden kann, beziehungsweise entsprechende Angebote nicht ausreichend bestehen", so Walbrecht.

Videos
Die Podcasterin spricht in ein Studio-Mikrofon. © Screenshot
4 Min

Ukrainische Podcasterin berichtet über Fluchtschicksale

2022 kam Lina Safronova nach Deutschland. Nun gibt sie Ukraine-Geflüchteten eine Stimme - auf Deutsch und Ukrainisch. (20.02.2024) 4 Min

Ukrainische Geflüchtete sind gut ausgebildet

Statistiken des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge zeigen dabei, dass das durchschnittliche Bildungsniveau der in Deutschland lebenden Geflüchteten aus der Ukraine deutlich höher ist, als das der Bevölkerung im Herkunftsland. Und es ist formal sogar höher als das der Bevölkerung in Deutschland. Fast Dreiviertel der Geflüchteten verfügt über einen akademischen Bildungsabschluss. Diese hohen Qualifikationen möchten sie gerne in Deutschland anwenden, sagt Walbrecht.

Bürokratie: Monatelanges Warten "hemmt die Motivation"

In der Praxis lassen sich jedoch viele deutsche Abschlüsse kaum auf das ukrainische System übertragen. So wird zum Beispiel ein Teil der Qualifikationen, die in Deutschland im dualen Ausbildungssystem erworben wird, in der Ukraine an Hochschulen vermittelt. Und das schafft Probleme bei der Anerkennung der ukrainischen Abschlüsse. "Neben dem Spracherwerb sind aus unserer Erfahrung vor allem die langen Wartezeiten und bürokratischen Hürden im Anerkennungsverfahren eine große Herausforderung", sagt Marie-Theres Volk vom "RKW Nord", die Migrantinnen und Migranten beratend unterstützt. Sie moniert die langen Bearbeitungszeiten bei zuständigen Stellen, monatelanges Warten sei keine Seltenheit. "Das hemmt die Motivation natürlich gewaltig."

Hauptsache Arbeit?

Eine Reinigungskraft mit Putzwagen. © picture alliance / SvenSimon | FrankHoermann Foto: SvenSimon | FrankHoermann
Arbeiten unterhalb der Qualifikation: Alltag vieler Migranten. (Themenbild)

Für den Flüchtlingsrat Niedersachsen ist dies nichts Neues. Viele Ukrainerinnen und Ukrainer beklagten, dass sie nicht im erlernten Bereich arbeiten könnten und das Jobcenter sie zuweilen auch "unter Druck" setze, unqualifizierte Beschäftigungen anzunehmen. Sigmar Walbrecht sagt, man müsse überlegen, "ob die Zugangsschwellen verringert werden, indem zunächst ohne förmliche Anerkennung der Qualifikation Tätigkeiten ausgeführt werden."

Mehr Sprachkurse und ausreichende Kinderbetreuung

Auch Marie-Theres Volk von der Beratungsstelle sagt: "Wir beobachten, dass viele ukrainische Fachkräfte gerne arbeiten wollen und mit viel Eigeninitiative diesen Prozess vorantreiben. Gäbe es mehr Sprachkurse, ausreichende Kinderbetreuung, effizientere Verwaltungsverfahren und vielleicht noch eine etwas größere Offenheit seitens der Unternehmen, wäre die Beschäftigungsquote sicher höher."

Weitere Informationen
Anna, die Ehefrau eines vor zwei Monaten getöteten Soldaten, und der Vater Oleksandr stellen auf dem Friedhof der Hafenstadt Odessa die ukrainische Nationalflagge am Grab ihres Ehemannes auf. (Foto vom 24. Februar 2024) © Kay Nietfeld/dpa

Zwei Jahre Ukraine-Krieg: Russlands Überfall und die Folgen

Am 24. Februar 2022 begann der Angriff. In der Ukraine starben mindestens 10.000 Zivilisten. mehr

Wie läuft es in anderen Ländern der EU?

Doch weiterhin ist es nicht selbstverständlich, dass Lehrer oder Ärztinnen aus der Ukraine hier tatsächlich auch in ihrem Beruf arbeiten können. Und schaut man ins EU-Ausland, dann zeigt sich auch dort, dass eine höhere Beschäftigungsquote nicht bedeutet, dass mehr Ukrainerinnen und Ukrainer Arbeit entsprechend ihrer Qualifikation finden. In den Niederlanden sind etwa 70 Prozent der ukrainischen Geflüchteten sozialversicherungspflichtig beschäftigt - und damit fast dreimal mehr als in Niedersachsen. Aber: "Trotz aller quantitativen Unterschiede bei der Arbeitsaufnahme in den europäischen Ländern gibt es eine Gemeinsamkeit: Die Qualität der gefundenen Arbeit ist überwiegend niedrig", heißt es in einer für die Friedrich-Ebert-Stiftung durchgeführten Studieaus dem Jahr 2022. "Ukrainische Kriegsflüchtlinge nehmen überwiegend Hilfstätigkeiten an, vor allem in gering bezahlten Servicefunktionen wie dem Gaststätten- und Hotelbereich."

Jede zweite Ukrainerin kam mit mindestens einem Kind

Seit dem russischen Überfall im Februar 2022 sind mehr als 1,1 Millionen ukrainische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger nach Deutschland gekommen. In Niedersachsen sind zum Stichtag 11.02.2024 insgesamt 111.585 Personen im Ausländerzentralregister (AZR) erfasst. Einen erheblichen Teil der Geflüchteten machen Kinder und Jugendliche aus: Etwa jede zweite Ukrainerin ist mit mindestens einem Kind nach Deutschland gekommen, knapp die Hälfte dieser Kinder ist jünger als zehn Jahre. Anders, als noch zu Beginn des Krieges, beabsichtigt mittlerweile fast die Hälfte der ukrainischen Geflüchteten, längerfristig in Deutschland zu bleiben.

Weitere Informationen
Menschen nehmen in Hannover an einer Solidaritätskundgebung für die Ukraine teil. © NDR Foto: Julia Willkomm

Zwei Jahre Krieg in der Ukraine: Gedenken in Niedersachsen

Mit Kundgebungen und Demonstrationen in mehreren Städten haben Menschen am Samstag der Opfer des Krieges gedacht. mehr

Journalisten filmen nach einem Drohnenangriff ein zerstörtes Gebäude in Odessa © dpa-Bildfunk Foto: Kay Nietfeld/dpa

Russland-Ukraine-Krieg: Die neuesten Entwicklungen

Die jüngsten Meldungen zu den Kämpfen und Ereignissen in der Ukraine sowie zur internationalen Diplomatie finden Sie bei tagesschau.de. extern

Dieses Thema im Programm:

Hallo Niedersachsen | 19.02.2024 | 19:30 Uhr

Schlagwörter zu diesem Artikel

Migration

Mehr Nachrichten aus Niedersachsen

Chiara und David stehen in einem Studio. © NDR

Chiara & David entdecken Niedersachsen

NDR Niedersachsen goes viral! Unsere neuen Hosts suchen nach spannenden Geschichten. Von Euch, für Euch und natürlich vertikal. mehr