Psychiatrie: Ein Stiefkind der DDR
Hilfe, Verwahrung oder Missbrauch - welche Rolle hat die Psychiatrie in der DDR gespielt? Wissenschaftler aus Rostock und Greifswald haben seit 2019 Zeitzeugen befragt und Archive durchstöbert.
Fast 35 Jahre sind seit dem Ende des DDR-Regimes vergangen. Die Psychiatrie in der DDR - in den Augen des Mediziners Ekkehardt Kumbier ist das ein Kapitel, das trotzdem bis heute noch unzureichend erforscht ist. Seit vier Jahren arbeitet er zusammen mit Kollegen aus Rostock und Greifswald an dem bundesweiten Forschungsprojekt "Seelenarbeit im Sozialismus" mit. Sein erstes Fazit: "Es gab nach unserem derzeitigen Wissen keinen systematischen Missbrauch, wo zum Beispiel wie in der Sowjetunion Dissidenten, also gesunde Menschen, als psychisch krank erklärt und verwahrt wurden." Aber: Es sei durchaus vorgekommen, dass Menschen mit psychischen Erkrankungen an staatlichen Feiertagen in die Kliniken gebracht wurden.
Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit
Alles in allem haben die Wissenschaftler 74 Zeitzeugen befragt - Ärzte, Pflegepersonal, Psychologen, Patienten. Außerdem haben sie sich in unterschiedlichsten Archiven umgesehen. Klar geworden ist dabei, dass viele Kliniken in üblem Zustand waren, dass Patienten in kargen Schlafsälen mit 15 Betten untergebracht und manchmal mehr verwahrt als behandelt wurden. Und auch mit der ärztlichen Schweigepflicht nahmen es, zumindest gegenüber der Staatssicherheit, viele nicht so genau. Trotzdem ist Prof. Kumbier überzeugt: "Es gab nicht die eine DDR-Psychiatrie. Es gab viele Psychiatrien mit ganz unterschiedlicher Ausstattung."
Kaum Personal in abgelegenen Gegenden
Da waren zum einen die "Leuchttürme" wie die Charité in Berlin oder Kliniken in Dresden und Leipzig. Aber es gab gerade in abgelegenen Gegenden auch etliche kleine Kliniken, die mit extremer Personalnot zu kämpfen hatten und bei denen nur wenig Geld ankam, die aber zugleich viele Patienten mit unterschiedlichsten Erkrankungen gleichzeitig versorgen sollten - eine frustrierende Situation nicht nur für die Kranken, sondern auch für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Die Historikerin Kathleen Haak erklärt: "Das hatte auch damit zu tun, dass die Psychiatrie tatsächlich in der DDR-Medizin so etwas wie das fünfte Rad am Wagen war. Es gab sehr wenig Geld, was von Bezirk zu Bezirk unterschiedlich war. Das lag teilweise auch an den Bezirksärzten, die sich mehr oder weniger für Psychiatrie interessierten. Und auch die hatten nur ein gewisses Budget und da musste erstmal die Grundversorgung realisiert werden." Gerade in den 1980er-Jahren seien die Finanzen immer knapper geworden, so dass bei der Psychiatrie kaum noch etwas ankam.
Nicht schwarz oder weiß
Wieviel eine Klinik leisten konnte, sei ganz entscheidend auch davon abhängig gewesen, wie sehr sich die Ärzte für ihr Fachgebiet engagiert haben. Und auch in diesem Bereich waren die Dinge nicht schwarz oder weiß: Mancher, der sich schon früh als Stasi-Spitzel anwerben ließ, Informationen von Mitarbeitern und Patienten gleichermaßen an den Staat weitergab, habe zugleich viele Verbesserungen für die Arbeit in der Psychiatrie erreichen können. Welche Handlungsspielräume hatten Mediziner damals? Wie genau war das Zusammenspiel von Kliniken und Gesellschaft? Wie stark wurden psychisch Kranke im DDR-System kriminalisiert? Fragen wie diese würden die Wissenschaftler gerne noch weiter ergründen - und hoffen darum auf eine Verlängerung ihres Forschungsprojektes um weitere zwei Jahre. Vorerst haben sie eine Datenbank geschaffen, die künftige Studien erleichtern soll. Und sie bereiten eine Internetseite vor, auf der sich künftig jedermann über die Seelenarbeit in der DDR informieren kann.