Gigantische Unterwasser-Giftwolke nach Nord-Stream-Explosionen
Bei den Sprengungen der Nord-Stream-Pipelines ist die Ostsee stark mit Giftstoffen verunreinigt worden - mit dramatischen Folgen für die Meeresumwelt. Zu diesem Ergebnis kommt eine wissenschaftliche Studie von Forschern aus Dänemark, Polen und Deutschland. So könnten bei den Explosionen alle Schweinswale im Umkreis von vier Kilometern sofort umgekommen sein.
Die Explosionen in rund 70 Metern Wassertiefe und das ausströmende Gas wirbelten 250.000 Tonnen teils giftiges Sediment vom Meeresboden auf, wie eine Forschergruppe um Hans Sanderson ausgerechnet hat. Der Umweltchemiker von der dänischen Universität Aarhus beschreibt das Szenario unter Wasser so: "Stellt Euch vor: ein Druck von 100 bar, dazu aufgerissene Stahlleitungen mit einem Rohrdurchmesser von knapp über einem Meter. Das Ergebnis ist eine gigantische Gasdüse." Mehrere Tage konnte dieser Strahl Sedimente in die Wassersäule wirbeln. Insgesamt elf Kubikkilometer Ostseewasser seien von der Sedimentwolke betroffen gewesen, schätzen die Forscher.
Das Bornholm-Becken - die denkbar ungünstigste Stelle
Das Bornholm-Becken wirkt wie ein Trichter, in dem sich Schwermetalle und verunreinigte organische Stoffe am Meeresboden ablagern und im Sediment anreichern. Das Ergebnis: eine feinkörnige, moderartige Schicht, die schnell aufgewirbelt werden kann und toxische Stoffe enthält. Nach den Explosionen haben die Forscher hohe Konzentrationen an Blei und Tributylzinn (TBT) nachgewiesen.
Weltkriegs-Kampfstoffe im Gebiet versenkt
Der Stoff wurde früher bei Schiffsanstrichen verwendet ist heute verboten. Aus gutem Grund, wie Henning von Nordheim von der Uni Rostock, erklärt: "Tributylzinn gelten als endokrine Disruptoren. Das heißt, sie können die Reproduktion von Organismen verhindern, modifizieren und stören. Das Blei kann, über die Planktonkette eingelagert, in den Organismus der Fische gelangen und damit bei uns auf dem Tisch landen," erklärt der Professor für Meeresnaturschutz.
Darüber hinaus gibt es im Bornholm-Becken große Mengen chemischer Kampfstoffe aus dem Zweiten Weltkrieg. Ungefähr 11.000 Tonnen ließen die Alliierten östlich von Bornholm versenken. Die gute Nachricht: Chemische Kampfstoffe oder deren Abbauprodukte, wie Arsen, haben die Forscher kaum gefunden. Der Abstand zu den Versenkungsgebieten war wohl groß genug.
Kinderstube des Dorsches
Das Bornholm-Becken ist aber auch Laich- und Aufwuchsgebiet für die Dorschpopulation der östlichen Ostsee. Die Explosionen ereigneten sich am Ende der normalen Laichzeit. Das Problem: Die aufgewirbelten giftigen Sedimente haben die Dorscheier schwerer gemacht. Dorscheier schweben im Wasser. Sie sind auf stabile Temperaturen und Salzschichtungen des Wassers angewiesen. Werden diese zerstört, sinken sie auf den Meeresboden und sterben ab.
Hinzu kommen die Langfristwirkungen durch die TBT- und Blei Exposition im Wasser. Gerade die Dorschpopulation steht bereits stark unter Druck. Hans Sanderson formuliert es so: "Sollten sich die Fischbestände weiter dramatisch verändern und es keine andere Erklärung dafür geben, dann liefern uns die Nord-Stream-Explosionen eine."
Schweinswale durch Druckwelle "wahrscheinlich sofort umgekommen"
Für die bei Bornholm heimischen Schweinswale hatten die Explosionen womöglich fatale Folgen. Die Population ist eine von nur zweien in der gesamten Ostsee. "Durch die direkte Druckwelle sind Schweinswale, die sich in einem Umkreis von vier Kilometer vom Explosionsort aufhielten, wahrscheinlich sofort umgekommen. Aber selbst Tiere, die sich 50 Kilometer entfernt aufgehalten haben, können Hörschaden davongetragen haben", erklärt Sanderson. Der Rostocker Meeresbiologe von Nordheim ergänzt: "Die Population in der zentralen Ostsee bei Bornholm besteht nur aus ein paar Hundert Tieren. Schon der Tod eines einzelnen fortpflanzungsfähigen Individiums ist ein großer Verlust." Ob Schweinswale umgekommen sind, können die Forscher nicht mit Sicherheit sagen.
Giftige Wolke schwebte einen Monat
Gut einen Monat schwebte eine giftige Wolke im Wasser. Auch das haben die Forscher berechnet. Die Langzeitfolgen bleiben unklar, genau wie die Hintermänner der Anschläge. Von Nordheim war einst selbst am Genehmigungsverfahren der Nord-Stream-Leitungen beteiligt. "Solche Pipelines wurden bislang immer nur dahingehend abgeprüft, was passiert, wenn ein Schiff untergeht und auf die Pipeline hinuntersinkt. Diese Gefahren wurden als relativ minimal geschildert."
Kein Schutz vor Sabotage
Von Nordheim fordert künftige Pipelines gegen terroristische Aktivitäten zu sichern. Seiner Ansicht nach müssen alle 50 bis 100 Kilometer Schots eingebaut werden. Solche Klappen können bei plötzlichem Druckabfall sensorgesteuert die Pipeline abriegeln und den Gasaustritt begrenzen. Bei den Nord-Stream-Sprengungen sind 115.000 Tonnen Methangas in die Atmosphäre gelangt. Die sind so klimaschädlich wie 15 Millionen Tonnen CO2, was wiederum dem entspricht, was in Mecklenburg-Vorpommern in anderthalb Jahren emittiert wird.
Giftige Bodensedimente bleiben problematisch
Hans Sanderson, der Studienleiter und Umweltchemiker von der Uni Aarhus warnt vor dem leichtfertigen Umgang mit dem Meeresboden. Gerade Dänemark hat ehrgeizige Pläne. Bornholm soll bis 2030 Energieinsel werden. Dafür sind mehrere Offshore-Windparks und eine Wasserstofffabrik geplant. Seekabel müssen verlegt und unterseeische Wasserstoff-Pipelines gebaut werden. "Unsere Studie zeigt, wenn wir den Meeresboden aufwirbeln, setzen wir Giftstoffe frei. Es müssen gar nicht mal chemische Kampfstoffe sein. Schwermetalle und TBT sind ein Problem und werden es auch in Zukunft bleiben."
Die Giftwolken nach den Nord-Stream-Sprengungen sind besonders ärgerlich, weil die Leitungen bereits außer Betrieb waren. Die USA und Russland machen sich weiter gegenseitig für die Sabotage verantwortlich und die amtlichen Untersuchungen sind weder in Schweden noch in Dänemark abgeschlossen. Aber klar ist schon jetzt, wer auch immer es war, hat auch die Verantwortung für die gigantischen Umweltschäden zu tragen.