Dorf Stadt Kreis: Tödliche Flucht aus der DDR über die Ostsee
60 Jahre nach dem Bau der Mauer und mehr als 30 Jahre nach ihrem Fall haben Greifswalder Forscher Fälle untersucht, in denen Menschen bei einem Fluchtversuch aus der DDR über die Ostsee umgekommen sind.
Neben der Aufklärung einzelner Todesfälle ist es den Wissenschaftlern gelungen, Lebensgeschichten zu schreiben. Die Arbeit war in mehrfacher Hinsicht schwierig, denn nicht die gelungenen Fluchtversuche waren das Forschungsthema für die Greifswalder Politikwissenschaftler und Historiker, sondern die Todesfälle.
Suche in Akten, Archiven und Ämtern
655 Todesfälle an der Ostseeküste haben sie überprüft, bei 147 sind sie sicher, dass es sich um eine Flucht gehandelt hat, bei weiteren 105 Fällen gibt es starke Anhaltspunkte dafür. Akribisch haben sie in Akten, Archiven und Standesämtern gesucht, mit Zeitzeugen, Angehörigen, Klassenkameraden und Freunden gesprochen. "Insgesamt muss man es sich wie eine große Puzzlearbeit vorstellen, wo man nur die Randmarkierungen hat und es dann Stück für Stück zusammensetzen muss", sagt die Historikerin Jenny Linek. Darüber und über die Ergebnisse spricht sie mit Mirja Freye in der neuen Folge unseres NDR MV Podcasts Dorf Stadt Kreis.
Forschung erst 30 Jahre nach dem Mauerfall
2019 haben die Greifswalder Wissenschaftler in einem Projekt mit der Suche nach den Todesfällen und der Untersuchung begonnen. Totenforschung an den Landgrenzen gab es schon lange, an der Berliner Mauer, an der DDR-Landgrenze. Henning Hochstein sagt, dass die Ostseefluchten erst vor vier Jahren in den Blick kamen, das habe damit zu tun, dass es keine akademisch selbständige Forschung zur DDR-Geschichte gebe. Zum anderen habe es aber auch mit der Art der Grenze selbst zu tun. "Die Ostsee ist keine Grenze, wo die Toten am Grenzzaun liegen und das ist keine Grenze, wo es dann zu jedem Fall eine lange Aktenspur gibt. Und deshalb waren diese Fälle kurz davor, unter dem Radar hindurch zu schlüpfen."
Ergebnisse sind Lebensgeschichten
Die Ergebnisse zu den Todesfällen nach einer Flucht über die Ostsee sind im Internet finden, Anfang 2024 sollen sie auch in einem Buch veröffentlicht werden. Unter www.todesopfer.eiserner-vorhang.de sind die Toten an Land und auf See auch aus den anderen Projekten zum Grenzregime aufgelistet. Das Greifswalder Projekt ist Teil eines vom Bund geförderten Forschungsverbundes mit der Freien Universität Berlin und der Universität Potsdam. In diesem Online-Handbuch sind auch die Ergebnisse der Greifswalder Forscher festgehalten, gesucht werden kann nach den Namen der Toten genauso wie nach ihrem Geburtsort oder dem Fundort der Leiche.
Fluchtversuche meistens Ende des Sommers
Die meisten wagten in den späten Sommermonaten die Flucht: Ende August und im September, wenn schon weniger Urlauber an der Küste waren, es schon früher dunkel wird, aber das Wasser noch warm ist. Eine Häufung von Fluchten gab es 1962 nach dem Mauerbau, danach sind fünf bis zehn Todesfälle nach einer Flucht pro Jahr dokumentiert. 90 Prozent der Toten sind junge Männer zwischen 18 und 22 Jahren.
Im Rückspiegel der Geschichte erscheinen, so sagt es Henning Hochstein, die meisten Fluchten unzureichend vorbereitet - weil alles im Geheimen ablaufen musste, weil das Material nicht da war, weil die Erfahrung fehlte. Auch ein junger Mann, der ohne jede Anstrengung 10 Kilometer schwimmen konnte, wurde ertrunken aufgefunden. Ein anderer hatte sich einen Yamaha-Außenborder besorgen können. Er war in Heiligendamm sogar an den DDR-Grenzern vorbei gekommen, aber der Motor war wohl zu schwer für das kleine Boot, der Mann wurde in Dänemark tot gefunden. Gestartet sind viele auch bei zu schlechtem Wetter. In manchen Fällen vermuten die Forscher eine Verabredung als Grund, dennoch aufs Wasser zu gehen. Manche gingen nur in Badehose und mit eingeschweißten Papieren auf die Flucht, manche banden sich Fahrradschläuche um und wieder andere bauten in Sachsen einen Faltboot-Katamaran und brachten ihn bis nach Rügen. Die Fluchtmittel mussten klein und unauffällig sein. Sie zeugen am Ende von der Entschlossenheit, die DDR zu verlassen.
Projekt stand auf der Kippe
Um Haaresbreite wäre das Projekt der Greifswalder Wissenschaftler nicht fertig geworden. Die Coronapandemie hatte die Recherche in Archiven genauso ausgebremst wie Besuche bei Zeitzeugen und Angehörigen. Als die Förderung durch das Bundesministerium im Februar 2023 auslief, waren mehr als 100 Fälle noch ungeklärt. Die Landesregierung von Mecklenburg-Vorpommern sprang ein und ermöglichte die Weiterführung und den Abschluss des Projekts bis zum Ende des Jahres 2023.
Bewegende und erschütternde Biografien
Der Erfolg der Greifswalder Forscher hat seinen Preis. Sie sind auch persönlich tief in Akten und Sektionsberichte eingetaucht und haben es am Schluss immer mit Toten zu tun gehabt. "Es ist die Brutalität, die einen auch so fertig macht, dass es da kein 'mit einem blauen Auge davonkommen' gibt. Entweder man schafft es oder man schafft es nicht und wenn man es nicht schafft, dann stirbt man auch", sagt Henning Hochstein. Seine Kollegin Merete Peetz formuliert es so: "Was mich sehr bewegt hat, ist, dass es vor allem die jüngere Generation war, die irgendwie für sich gesagt hat, ich kann hier das Leben, das ich mir selber aufbauen möchte und planen möchte, das kann ich überhaupt nicht in irgendeiner Art und Weise hier umsetzen."
Geschichte wird greifbar
Das Bild, das die Greifswalder Forscher zeichnen können, haben sie an den Todesfällen gezeichnet. Geglückte Fluchten oder Fluchten, die ins Gefängnis führten, die hat es auch gegeben, aber sie sind in diesem Bild nicht dabei. Die Todesfälle sind so vor dem Vergessen bewahrt worden. Diese erzählen aber eben auch von Freiheitsliebe und Freiheitsdrang und dem Mut junger Menschen, betonen die Wissenschaftler.
Auch im Podcast "Über die Ostsee: Tödliche Flucht aus der DDR", zu hören in der NDR MV App oder in der ARD Audiothek.