Nachruf auf Otfried Nassauer
Wenn es um eine Einschätzung ging, was beispielsweise von der neuen US-Nuklearstrategie zu halten ist, dann war man bei Otfried Nassauer an der richtigen Adresse. Er hatte immer ein offenes Ohr für Anfragen, war bestens informiert und hatte die neusten Dokumente schon längst gelesen. Ihm sind Veränderungen und Neuerungen im sicherheitspolitischen Bereich sofort aufgefallen. Nassauer wusste sofort, welche Auswirkungen die eine oder andere Formulierung in einem Dokument haben könnte.
Breit aufgestellt
Er hatte ein immenses Wissen und Erinnerungsvermögen. Dabei stützte er sich auf ein großes eigenes Archiv, das prall gefüllt war mit zahlreichen Dokumenten und Papieren. Er war breit aufgestellt. Seine Schwerpunktthemen waren Waffenexporte, die Rüstungsindustrie, aber auch die Ost-West-Beziehungen, Rüstungskontrolle und die europäische Sicherheit und vieles mehr.
Jederzeit ansprechbar
Die Telefonate mit Otfried Nassauer waren immer lang und sehr ergiebig. Er wies auf neue Aspekte und Fragestellungen eines Themas hin, die der anrufende Redakteur noch gar nicht auf dem Schirm hatte. Das Ergebnis der Gespräche mit ihm waren mehrere Zettel mit wertvollen Notizen, Anregungen und Ideen für eine Weiterdrehe des von der Redaktion angedachten Themas. Telefonate brachten oft auch Hinweise auf sich abzeichnende Entwicklungen. "Achte mal drauf. Da kommt demnächst was. Das kann interessant werden." Denn Otfried Nassauer war bestens vernetzt. Er kannte viele Experten der sicherheitspolitischen Community – in Ost und West. Von diesem Fundus an geballtem Fachwissen profitierte die Sendereihe Streitkräfte und Strategien.
Präzise Analysen
Otfried Nassauer hat mit seinen mehr als 150 Beiträgen für "Streitkräfte und Strategien" die Sendereihe geprägt. In seinen Manuskripten war jede Formulierung durchdacht und hatte ihren Sinn. Beim Redigieren seiner Texte wurde daher so manches Mal mit der Redaktion gerungen. Seinen ersten Beitrag für die NDR-Sendereihe lieferte er 1993. Er beschäftige sich mit Rüstungsexporten. Es sollten viele weitere Analysen zu diesem und vielen anderen Themen folgen.
Verständlich für Nicht-Experten
Otfried Nassauer war ein profunder Kenner der immer komplexer werdenden sicherheitspolitischen Materie. Aufgrund seines immensen Wissens war er beim Fernsehen und im Hörfunk ein gefragter Interview-Partner – auch im aktuellen Programm von NDR Info. Zum Beispiel bei der Frage, warum die NATO-Staaten und damit auch Deutschland sich gegen den Atomwaffenverbotsvertrag stellen, der inzwischen von mehr als 80 Ländern unterzeichnet worden ist. Otfried Nassauer konnte es dem breiten Publikum ohne Fremdworte und allgemeinverständlich erklären: Für ihn war klar:
"Die Atommächte sperren sich gegen diesen Vertrag, weil sie sich sozusagen als diejenigen empfinden, die legalerweise Atomwaffen haben und nicht darauf verzichten wollen. Die Atommächte haben ihre Bündnispartner angesprochen und gesagt: 'Wir wollen nicht, dass ihr da ausscheidet.' Und zwar weil sie befürchten, dass in dem Moment, wo die Bündnispartner wegfallen, auch eine Legitimation für sich selber wegfällt, diese Waffen noch haben zu dürfen. Denn der Atomwaffensperrvertrag aus den 60er-Jahren war ursprünglich mal als eine zeitweilige Erlaubnis gedacht, dass die Atomwaffenstaaten Atomwaffen haben dürfen, aber praktisch auf null abrüsten müssen. Dazu verpflichtet sie dieser Vertrag."
Kontakt zu Entscheidungsträgern
Otfried Nassauer war Mitgründer und Direktor des Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit BITS. Für kirchliche Einrichtungen und Nichtregierungsorganisationen verfasste er regelmäßig Studien und Gutachten. Seine Expertise war auch bei politischen Entscheidungsträgern gefragt.
Verlust für Community
Otfried Nassauer war der Friedensbewegung eng verbunden. Er engagierte sich für Rüstungskontrolle und Abrüstung. Nassauer hat an unzähligen Podiumsdiskussionen und anderen Veranstaltungen teilgenommen. Nach dem Fall der Mauer organisierte er frühzeitig ein Treffen zwischen NVA-Offizieren der Dresdner Militärakademie und Soldaten der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg.
Der sicherheitspolitischen Community wird seine gewichtige Stimme fehlen. Otfried Nassauer starb viel zu früh. Er hatte noch sehr viel vorgehabt. Otfried Nassauer wurde 64 Jahre alt.