Kommentar zur Kindergrundsicherung: Schluss mit dem würdelosen Gezänk
Die Kindergrundsicherung sollte ein sozialpolitisches Vorzeigeprojekt werden. Doch das im Koalitionsvertrag vereinbarte Projekt wird im Ampelgezänk zwischen der FDP und den Grünen zerrieben, meint Stephan Richter. Dabei ist jedes fünfte Kind in Deutschland von Kinderarmut bedroht.
Ein Kommentar von Stephan Richter, freier Autor
Es sollte ein sozialpolitisches Vorzeigeprojekt werden. Doch wenn die Kindergrundsicherung jetzt noch irgendwie kommt, wird das unwürdige Pokern innerhalb der Ampelkoalition Spuren hinterlassen haben. Grundsicherung nicht in erster Linie für die Schwächsten der Gesellschaft, sondern Grundsicherung eigener Positionen. Die FDP will die Schuldenbremse nicht aufweichen lassen und erklärt Steuererhöhungen zum Tabu. Die Grünen brauchen die Familienpolitik als neues Standbein, komme was wolle. Nur als Ökopartei wahrgenommen zu werden, trägt auf Dauer nicht.
Kindergrundsicherung ist keine Herzensangelegenheit der Regierung
So dreht sich das Geschacher um die Kindergrundsicherung nur an zweiter Stelle um den Kampf gegen die Kinderarmut, von der jedes fünfte Kind in Deutschland bedroht ist. Deren Bildungs- und Entwicklungschancen zu verbessern, ist dringlicher denn je. Allein die Inflation und die Energiekrise zwingen zum Handeln. Doch die im Koalitionsvertrag vereinbarte Kindergrundsicherung ist weit davon entfernt, zu einer Herzensangelegenheit der Regierung zu werden. Sie wurde vielmehr zur Arena des Revierkampfes zwischen Grünen und FDP degradiert. Und Olaf Scholz schaut zu. Ausgerechnet ein SPD-Kanzler überlässt den Koalitionspartnern die Debatte. Dabei gehörten Sozial- und Familienpolitik mal zu den Kernthemen seiner Partei. Peinlich.
Natürlich geht es bei dem geplanten Gesetzesvorhaben ums Geld. Dass darüber gerungen wird, ist richtig. Schließlich hat die Regierung mit der Erhöhung von Kindergeld und Kinderzuschlag bereits tief in die ohnehin überstrapazierte Staatskasse gegriffen. Doch das ändert nichts daran, dass nach aktuellen Zahlen der Bertelsmann-Stiftung 2,9 Millionen Kinder und Jugendliche in Armut leben. Tendenz steigend.
Die Höhe der finanziellen Leistungen sollte keine Rolle spielen
Die Gerechtigkeitslücken sind unübersehbar: So wird bei Empfängern von Transferleistungen das Kindergeld mit anderen staatlichen Leistungen wie dem Bürgergeld verrechnet. Damit bleibt von der Erhöhung zum Jahresbeginn kaum etwas übrig. Eltern mit hohem Einkommen profitieren dagegen zusätzlich von der Anhebung der Kinderfreibeträge. Fair ist das nicht. Ein nicht anrechenbarer Garantiebetrag für jedes Kind, wie er als Herzstück der Kindergrundsicherung geplant ist, könnte da Schieflagen abbauen. Doch so etwas kostet Geld. Mit 12 Milliarden Euro rechnet Familienministerin Lisa Paus. Wenn sich Finanzminister Christian Lindner von solchen Forderungen überrascht zeigt, ist die Gegenfrage zu stellen: Glaubte die FDP beim Unterzeichnen des Koalitionsvertrages wirklich, dass das versprochene "größte sozialpolitische Vorhaben" dieser Legislaturperiode zum Nulltarif zu haben ist?
Im Kampf gegen die Kinderarmut spielt indes nicht nur die Höhe der finanziellen Leistungen eine Rolle. Auch wenn belastbare aktuelle Daten nicht vorliegen, ist unstrittig, dass viele Familienleistungen von Anspruchsberechtigten nicht abgerufen werden, weil die bürokratischen Hürden zu hoch sind. Die Sozialverbände machen seit Langem Druck, dass die rund 200 verschiedenen ehe- und familienpolitischen Einzelleistungen vom Kindergeld bis zum Unterhaltsvorschuss gebündelt werden. Wenigstens in diesem Punkt herrscht unter den Koalitionären weitgehend Einigkeit.
Ein Trostpflaster für die Grünen
Dass der finanzielle Spielraum für Reformvorhaben in Krisenzeiten enger geworden ist, dürfte unstrittig sein. Das gilt auch für die Kindergrundsicherung. Umso mehr müssten Prioritäten gesetzt werden. Der 30-stündige Verhandlungsmarathon des Koalitionsausschusses Ende März wäre dafür die passende Gelegenheit gewesen. Stattdessen brachten die Koalitionäre - und hier sind es nicht zuletzt die Grünen - andere neue milliardenschwere Entlastungsprogramme ins Spiel. Diesmal fürs Verschrotten klimaschädlicher Heizungen.
Irgendwann muss es da eng werden. Doch ausgerechnet bei der Kindergrundsicherung? Kommen wird sie. Schon deshalb, weil die Grünen ein Trostpflaster brauchen, nachdem sie von den Koalitionspartnern beim Klimaschutz gebeutelt worden sind. Für die Schwächsten der Gesellschaft ist das kein Trost. Denn zu befürchten ist, dass beim geplanten monatlichen Festbetrag, der allen Kindern gleichermaßen gewährt werden soll, gespart wird und er geringer ausfällt als notwendig. Im Kampf gegen Kinderarmut wäre eine Chance vertan.
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