Ein Kind zählt Euromünzen in seiner Hand. © imago Foto: photothek

Kommentar zur Kindergrundsicherung: Schluss mit dem würdelosen Gezänk

Stand: 07.04.2023 00:01 Uhr
Ein Kind steht am Fenster © dpa
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Ein Kommentar von Stephan Richter, freier Autor

Es sollte ein sozialpolitisches Vorzeigeprojekt werden. Doch wenn die Kindergrundsicherung jetzt noch irgendwie kommt, wird das unwürdige Pokern innerhalb der Ampelkoalition Spuren hinterlassen haben. Grundsicherung nicht in erster Linie für die Schwächsten der Gesellschaft, sondern Grundsicherung eigener Positionen. Die FDP will die Schuldenbremse nicht aufweichen lassen und erklärt Steuererhöhungen zum Tabu. Die Grünen brauchen die Familienpolitik als neues Standbein, komme was wolle. Nur als Ökopartei wahrgenommen zu werden, trägt auf Dauer nicht.

Kindergrundsicherung ist keine Herzensangelegenheit der Regierung

Stephan Richter, freier Autor, ehemals Chefredaktion Schleswig-Holsteinischer Zeitungsverlag sh:z. © sh:z Foto: Marcus Dewanger
Die Debatte um die Kindergrundsicherung wurde zur Arena des Revierkampfes zwischen Grünen und FDP degradiert, meint Stephan Richter.

So dreht sich das Geschacher um die Kindergrundsicherung nur an zweiter Stelle um den Kampf gegen die Kinderarmut, von der jedes fünfte Kind in Deutschland bedroht ist. Deren Bildungs- und Entwicklungschancen zu verbessern, ist dringlicher denn je. Allein die Inflation und die Energiekrise zwingen zum Handeln. Doch die im Koalitionsvertrag vereinbarte Kindergrundsicherung ist weit davon entfernt, zu einer Herzensangelegenheit der Regierung zu werden. Sie wurde vielmehr zur Arena des Revierkampfes zwischen Grünen und FDP degradiert. Und Olaf Scholz schaut zu. Ausgerechnet ein SPD-Kanzler überlässt den Koalitionspartnern die Debatte. Dabei gehörten Sozial- und Familienpolitik mal zu den Kernthemen seiner Partei. Peinlich.

Natürlich geht es bei dem geplanten Gesetzesvorhaben ums Geld. Dass darüber gerungen wird, ist richtig. Schließlich hat die Regierung mit der Erhöhung von Kindergeld und Kinderzuschlag bereits tief in die ohnehin überstrapazierte Staatskasse gegriffen. Doch das ändert nichts daran, dass nach aktuellen Zahlen der Bertelsmann-Stiftung 2,9 Millionen Kinder und Jugendliche in Armut leben. Tendenz steigend.

Der Leiter der Arche in Hamburg, Tobias Lucht.
AUDIO: Arche-Chef: "Kindergrundsicherung würde Möglichkeiten eröffnen" (5 Min)

Die Höhe der finanziellen Leistungen sollte keine Rolle spielen

Die Gerechtigkeitslücken sind unübersehbar: So wird bei Empfängern von Transferleistungen das Kindergeld mit anderen staatlichen Leistungen wie dem Bürgergeld verrechnet. Damit bleibt von der Erhöhung zum Jahresbeginn kaum etwas übrig. Eltern mit hohem Einkommen profitieren dagegen zusätzlich von der Anhebung der Kinderfreibeträge. Fair ist das nicht. Ein nicht anrechenbarer Garantiebetrag für jedes Kind, wie er als Herzstück der Kindergrundsicherung geplant ist, könnte da Schieflagen abbauen. Doch so etwas kostet Geld. Mit 12 Milliarden Euro rechnet Familienministerin Lisa Paus. Wenn sich Finanzminister Christian Lindner von solchen Forderungen überrascht zeigt, ist die Gegenfrage zu stellen: Glaubte die FDP beim Unterzeichnen des Koalitionsvertrages wirklich, dass das versprochene "größte sozialpolitische Vorhaben" dieser Legislaturperiode zum Nulltarif zu haben ist?

Im Kampf gegen die Kinderarmut spielt indes nicht nur die Höhe der finanziellen Leistungen eine Rolle. Auch wenn belastbare aktuelle Daten nicht vorliegen, ist unstrittig, dass viele Familienleistungen von Anspruchsberechtigten nicht abgerufen werden, weil die bürokratischen Hürden zu hoch sind. Die Sozialverbände machen seit Langem Druck, dass die rund 200 verschiedenen ehe- und familienpolitischen Einzelleistungen vom Kindergeld bis zum Unterhaltsvorschuss gebündelt werden. Wenigstens in diesem Punkt herrscht unter den Koalitionären weitgehend Einigkeit.

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Lisa Paus (Bündnis 90/Die Grünen), Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, bei einer Pressekonferenz. © dpa bildfunk Foto: Kay Nietfeld

Paus zur Kindergrundsicherung: Lindner weiß, was er unterschrieben hat

Die Bundesfamilienministerin ist zuversichtlich, dass auch der Finanzminister mitzieht. Schließlich habe er den Koalitionsvertrag mitunterzeichnet, sagte Paus auf NDR Info. mehr

Ein Trostpflaster für die Grünen

Dass der finanzielle Spielraum für Reformvorhaben in Krisenzeiten enger geworden ist, dürfte unstrittig sein. Das gilt auch für die Kindergrundsicherung. Umso mehr müssten Prioritäten gesetzt werden. Der 30-stündige Verhandlungsmarathon des Koalitionsausschusses Ende März wäre dafür die passende Gelegenheit gewesen. Stattdessen brachten die Koalitionäre - und hier sind es nicht zuletzt die Grünen - andere neue milliardenschwere Entlastungsprogramme ins Spiel. Diesmal fürs Verschrotten klimaschädlicher Heizungen.

Irgendwann muss es da eng werden. Doch ausgerechnet bei der Kindergrundsicherung? Kommen wird sie. Schon deshalb, weil die Grünen ein Trostpflaster brauchen, nachdem sie von den Koalitionspartnern beim Klimaschutz gebeutelt worden sind. Für die Schwächsten der Gesellschaft ist das kein Trost. Denn zu befürchten ist, dass beim geplanten monatlichen Festbetrag, der allen Kindern gleichermaßen gewährt werden soll, gespart wird und er geringer ausfällt als notwendig. Im Kampf gegen Kinderarmut wäre eine Chance vertan.

Anmerkung der Redaktion: Liebe Leserin, lieber Leser, die Trennung von Meinung und Information ist uns besonders wichtig. Meinungsbeiträge wie dieser Kommentar geben die persönliche Sicht der Autorin / des Autors wieder. Kommentare können und sollen eine klare Position beziehen. Sie können Zustimmung oder Widerspruch auslösen und auf diese Weise zur Diskussion anregen. Damit unterscheiden sich Kommentare bewusst von Berichten, die über einen Sachverhalt informieren und unterschiedliche Blickwinkel möglichst ausgewogen darstellen sollen.

Dieses Thema im Programm:

NDR Info | Kommentar | 07.04.2023 | 09:25 Uhr

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