Geflüchtete aus der Ukraine stehen mit ihrem Gepäck vor den Gebäuden eines Flüchtlingsheims (Symbolbild). © dpa Foto: Henning Kaiser

Kommentar zum EU-Asylkompromiss: Ein namenloses Elend

Stand: 22.06.2023 11:35 Uhr

Der Asylkompromiss der Europäischen Union, der in der vergangenen Woche gefunden wurde, sorgt für viel Kritik. In den Augen der Kritiker spielt die Abschottung eine zu große Rolle. Migration werde nur noch als Bedrohung wahrgenommen, den Flüchtlingen werde der Schutz genommen.

Porträtbild des Journalisten Heribert Prantl. © picture alliance / Sven Simon Foto:  Anke Waelischmiller/SVEN SIMON
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Der NDR Info Wochenkommentar "Die Meinung" von Heribert Prantl, Autor und Kolumnist der "Süddeutschen Zeitung"

Vor drei Wochen ist im Mittelmeer, vor der Küste Griechenlands, ein überfülltes Flüchtlingsboot gesunken; man spricht von fünfhundert Toten, darunter viele Kinder und schwangere Frauen. Es ist dies wie ein grausamer Kommentar zum EU-Asylkompromiss.

Das Elend ist namenlos. Seit 2014 sind im Mittelmeer 20.000, vielleicht 25.000 Menschen ums Leben gekommen. Von den allermeisten weiß man nicht einmal, wie sie geheißen haben. Es gibt daher eine Aktion, die "Beim Namen nennen" heißt. Diese Aktion macht sich die Mühe, die Namen der ertrunkenen Flüchtlinge zu recherchieren und die wenigen Spuren ihres Schicksals ehrend festzuhalten.

Die Europäische Union macht sich solche Mühe nicht. Sie müht sich stattdessen, auch das Recht sterben zu lassen, auf das sich die Ertrunkenen hatten berufen wollen.

Die Reform zwingt die Menschen, ihr Leben zu riskieren

Porträtbild des Journalisten Heribert Prantl. © picture alliance / Sven Simon Foto:  Anke Waelischmiller/SVEN SIMON
Das Elend der Flüchtlinge ist wirklich namenlos, kommentiert Heribert Prantl.

Der Asylkompromiss, auf den sich die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union soeben geeinigt haben, ist der Versuch, die gesamte Migration zu irregularisieren und zu illegalisieren. Es ist zu befürchten, dass solche Pläne auch hierzulande auf wachsende Zustimmung stoßen, weil Bürgermeister und Landräte nicht mehr wissen, wie sie mit den Folgen der bankrotten EU-Flüchtlingspolitik gut umgehen sollen.

Es gibt in der EU immer massivere Tendenzen zu einer Trumpisierung, Salvinisierung, PiS-isierung und Orbanisierung der Asylpolitik. Die EU-Anstrengungen haben das Ziel, dem Asylrecht die Rechtsqualität und dem Flüchtling den Schutz in Europa zu nehmen.

Fast alles, was in Brüssel unter der Überschrift "Reform" der Flüchtlingspolitik betrieben wird, dient nicht der Verbesserung, sondern der Verschlechterung des gegenwärtigen Zustands, der schlimm genug ist. Er zwingt die Menschen, die Schutz suchen, dazu, ihr Leben auf dem Mittelmeer zu riskieren.

Europa unterstützt Folterstaaten

Verbessert, nämlich verschärft, wird allein das Prinzip Abschreckung. Zu den geplanten Abschreckungsmaßnahmen gehören Hotspots an allen Außengrenzen, also Freiluftgefängnisse, wie man sie von den griechischen Inseln wie Kos oder Lesbos kennt. Zu den Abschreckungsmaßnahmen gehört die Ausweitung von Inhaftierung und Isolation. Zu den Abschreckungsmaßnahmen gehört die Kriminalisierung der Seenotrettung.

Die europäische Unterstützung von Folterstaaten gehört auch zu den Abschreckungsmaßnahmen. Die Europäische Union unterstützt Staaten wie Libyen, dessen sogenannte Küstenwache dann, finanziert von der EU, Flüchtlingsboote rammt.

Und die Spitzenpolitiker der europäischen Staaten verhandeln mit dem tunesischen Präsidenten Kais Saied, der die Flüchtlinge in Tunesien aufhalten soll. Saied ist ein Autokrat, der seine Gegner verhaften lässt, der Rassismus schürt und Verschwörungstheorien verbreitet. Mit so einem Politiker soll also nun ein Flüchtlingszurückhaltepakt geschlossen werden. Der Zweck heiligt offenbar die Mittel.

Entrechtungsmaßnahmen sind keine Verbesserungen

Zu den neuen Entrechtungsmaßnahmen gehört vor allem die Ausweitung des Konzepts der sicheren Drittstaaten. Das klingt erst einmal nur routiniert, es ist aber perfide: Flüchtlinge, die an den Außengrenzen der Europäischen Union aufgehalten werden, müssen künftig damit rechnen, in irgendwelche Staaten verfrachtet zu werden, in denen sie sich noch nie aufgehalten haben, mit denen aber die EU einschlägige Verträge geschlossen hat.

In diesen Verträgen haben diese Staaten gegen Zahlung von viel Geld zugesichert, sich um die Flüchtlinge zu kümmern. Es geht um Staaten wie Ruanda, Senegal oder Tunesien.

Von einer "Auslagerung des Flüchtlingsschutzes" ist die Rede. Als vor zweieinhalb Jahren der damalige britische Premier Boris Johnson damit begann, Asylbewerber ohne jede vorherige Prüfung ins arme Ruanda zu verfrachten, wurde das in Brüssel noch mit Entsetzen und Kopfschütteln kommentiert. Nun aber soll das Prinzip Johnson von der EU nobilitiert werden.

EU muss legale Wege für Migration öffnen und festigen

Europa muss die immer umfassendere Illegalisierung der Migration beenden. Es muss damit aufhören, alle Wege nach Europa für Irrwege zu erklären. Europa muss und kann natürlich nicht alle aufnehmen, die kommen.

Aber Europa muss legale Wege für Migration öffnen und befestigen - und damit klar machen, dass es nicht einfach darum geht, die Flüchtlingszahlen niederzuknüppeln, sondern darum, Schutz und Hilfe auf einen guten Weg zu bringen. Das wünsche ich mir. Das Elend der Flüchtlinge ist wirklich namenlos. Aber ihr aller Name ist Mensch, jeder Einzelfall zählt.

Anmerkung der Redaktion: Liebe Leserin, lieber Leser, die Trennung von Meinung und Information ist uns besonders wichtig. Meinungsbeiträge wie dieser Kommentar geben die persönliche Sicht der Autorin / des Autors wieder. Kommentare können und sollen eine klare Position beziehen. Sie können Zustimmung oder Widerspruch auslösen und auf diese Weise zur Diskussion anregen. Damit unterscheiden sich Kommentare bewusst von Berichten, die über einen Sachverhalt informieren und unterschiedliche Blickwinkel möglichst ausgewogen darstellen sollen.

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NDR Info | Kommentar | 25.06.2023 | 09:25 Uhr

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